Einzigartiger Aids-Fall –
«Ich habe keine Angst – selbst wenn das Virus zurückkehren sollte»
Ein vor 35 Jahren an Aids erkrankter Mann aus Genf gilt nach einer Knochenmarktransplantation als geheilt. Sein Fall gibt der Forschung Hoffnung. Drei Experten erklären, weshalb.
Publiziert heute um 18:07 Uhr
Der Genfer Patient Romuald (mit Sonnenbrille) mit dem Team, das ihn seit Jahren betreut, u. a. Asier Sáez-Cirión (Zweiter von links), Alexandra Calmy (Dritte von links) und Christina Gavegnano (Zweite von rechts).
Foto: Laurent Guiraud
In Kürze:
- Bei einem Genfer Patienten, der an HIV erkrankt war, sind seit vier Jahren keine HI-Viren mehr nachweisbar.
- Eine neue klinische Studie untersucht das Medikament Ruxolitinib als mögliche Alternative zur Knochenmarktransplantation.
- Das Medikament Lenacapavir bietet neue Präventionsmöglichkeiten mit nur zwei Injektionen pro Jahr.
Romuald wird sich sein ganzes Leben lang an den 16. November 2021 erinnern. An diesem Tag konnte der Genfer, bei dem 1990 HIV diagnostiziert worden war, seine Behandlung abbrechen, weil in seinem Körper keine Spuren des Virus mehr nachweisbar waren. Einige Monate später wurde die Hoffnung auf ein dauerhaftes Verschwinden der Infektion Wirklichkeit. Romuald, der allgemein als «Patient aus Genf» bezeichnet wird, ist damit der sechste Patient weltweit, der dank einer Knochenmarktransplantation von HIV geheilt wurde. Aus Persönlichkeitsschutzgründen ist er nur unter seinem Vornamen bekannt.
Im Gegensatz zu den anderen fünf Patienten weist der Genfer eine Besonderheit auf, die neue therapeutische Perspektiven eröffnet. Auch heute noch, vier Jahre später, ist sein Fall weltweit einzigartig. Er ist zu einem Referenzpatienten geworden, der Ausgangspunkt für mehrere klinische Studien ist, von denen eine letzte Woche in den USA begonnen hat und an der die Universitätsspitäler Genf (HUG) teilnehmen werden.
Der Fall des Genfer Patienten ist weltweit einzigartig
«Inzwischen sind vier Jahre vergangen, doch auch heute noch öffne ich Romualds Befunddatei mit einer gewissen Nervosität und frage mich: Ist die Viruslast immer noch nicht nachweisbar?», sagt Alexandra Calmy, Leiterin der Abteilung HIV/Aids an den Universitätsspitalern Genf. Sie hat in Zusammenarbeit mit Asier Sáez-Cirión, Biologe und Leiter der Abteilung Virale Reservoirs und Immunkontrolle am Institut Pasteur in Paris, die Behandlung geleitet, die die Remission ermöglicht hat. Unter Remission versteht man die starke Reduzierung oder die vorübergehende Unterdrückung der Krankheitsaktivität.
Der Genfer Patient hat nicht das Gefühl, dass ein Damoklesschwert über seinem Kopf hängt. «Ich habe keine Angst. Selbst wenn das Virus zurückkehren sollte, wäre das kein Misserfolg, denn diese vier Jahre haben dazu beigetragen, die Forschung voranzubringen, und vor allem haben sie die Tür zur Hoffnung geöffnet.»
Mittlerweile befinden sich weltweit zehn Menschen nach einer Knochenmarktransplantation in Remission von HIV. Sie erhielten dabei Stammzellen, die eine seltene Mutation aufweisen, von der bekannt ist, dass sie die Ansiedlung von HIV im Körper blockiert. Während man bisher davon ausging, dass diese Mutation für eine dauerhafte Remission unerlässlich sei, hat Romualds Fall das Gegenteil bewiesen.
Sein Spender war nicht Träger dieser Mutation. In der Folge erhielten weitere Patienten eine Transplantation ohne Mutation, doch bei ihnen trat das Virus erneut auf. Der Fall des Genfers ist deshalb sehr aussergewöhnlich und hat neue Perspektiven für die Erforschung innovativer Heilungsstrategien eröffnet.
Ein Medikament zur Kontrolle der Immunreaktion weckt Hoffnungen
«Es werden mehrere Hypothesen untersucht, darunter die Verwendung eines Medikaments namens Ruxolitinib, das Romuald nach seiner Transplantation verabreicht wurde», erklärt Asier Sáez-Cirión. Es wird zur Kontrolle der Immunreaktion eingesetzt und soll die Zellvermehrung hemmen und gleichzeitig die Entleerung der Reservoirs fördern, in denen sich das HI-Virus einnistet.
Bereits 2011 hatte die US-Professorin Christina Gavegnano von der Emory University in Atlanta diese Entleerungswirkung nachgewiesen und damit vorausgesagt, dass Ruxolitinib eine entscheidende Rolle im Kampf gegen HIV spielen könnte.
Als Alexandra Calmy und Asier Sáez-Cirión vor zwei Jahren der wissenschaftlichen Gemeinschaft von der unglaublichen Remission des Genfer Patienten berichteten, war Christina Gavegnano völlig überrascht. «Als ich von diesem aussergewöhnlichen Fall erfuhr, bei dem unser Medikament zum Einsatz gekommen war, kamen mir fast die Tränen», erzählt sie noch immer bewegt. «Es war wie ein Traum. Das ist ein kolossaler Fortschritt für diese Arbeit, die für mich ein Lebenswerk ist. Dank Romuald werden weitere Menschen gerettet werden können.» Seitdem arbeiten die beiden Teams eng zusammen.
Neue Studie untersucht, ob ein Medikament die Transplantation ersetzen könnte
Vor einer Woche hat Gavegnano in den Vereinigten Staaten eine klinische Studie mit dem Medikament Ruxolitinib gestartet, an der auch die HUG teilnehmen werden. «Das Ziel ist es, nachzuweisen, ob es zu einer Remission beitragen kann, was bedeuten würde, dass eine Knochenmarktransplantation nicht notwendig ist. Aber das ist zurzeit nur eine Hypothese», erklärt Sáez-Cirión.
Alexandra Calmy fügt hinzu: «Selbst wenn die Bemühungen scheitern sollten, werden sie nicht umsonst gewesen sein. Die Fortschritte aus der HIV-Forschung kommen insbesondere den Bereichen Immunologie und Virologie zugute.»
Ein Impfstoff gegen HIV ist nicht in Reichweite
Auf die Frage, warum es Forschern und Forscherinnen bis heute nicht gelungen sei, einen Impfstoff gegen HIV zu entwickeln, antwortet der Biologe: «Es handelt sich um ein besonders kompliziertes, sehr resistentes Virus mit einer sehr hohen Mutationsrate. Ausserdem sind klinische Studien teuer, komplex und erfordern eine grosse Patientengruppe.»
Im Bereich der Prävention wurden hingegen grosse Fortschritte erzielt, beispielsweise mit PrEP, einem Präventivmedikament, das vor einer Ansteckung schützt und täglich eingenommen werden muss, und mit Lenacapavir, das nur zweimal pro Jahr injiziert werden muss.
«Lenacapavir kann den Verlauf der Epidemie verändern», sagt Calmy. Das Medikament ist jedoch noch nicht erhältlich – die Injektion kostet mehr als 40’000 Dollar pro Jahr –, aber Generika für weniger als 50 Dollar sollen ab 2027 in Ländern mit niedrigem Einkommen verfügbar sein.
Auf die Frage, weshalb Forschende weiterhin nach einem HIV-Impfstoff suchen sollten, wenn doch die beiden Medikamente bereits gute Resultate zeigten, antworten Calmy und Sáez-Cirión: «Die Wirkung von Lenacapavir ist nicht dauerhaft. Diese Präventionsmedikamente sind aussergewöhnlich und ermöglichen es, die Epidemie bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren, aber nicht zu beenden. Die Tatsache, dass es sie gibt, darf die Impfstoffforschung nicht behindern.»
Aus dem Französischen übersetzt von Yolanda Di Mambro.
In den 1990er-Jahren infizierten sich in der Schweiz jährlich rund 1300 Menschen mit HIV. 80 Prozent starben daran. Heute gibt es in der Schweiz durchschnittlich 300 neue Fälle pro Jahr, und circa 17’610 Menschen leben mit HIV. «Die Epidemie ist in der Schweiz unter Kontrolle», sagt Alexandra Calmy, Leiterin der Abteilung HIV/Aids an den Universitätsspitälern Genf (HUG). «In anderen Ländern ist dies jedoch nicht der Fall, selbst in Europa, wo die Aids-bedingte Sterblichkeit seit 2010 um 37 Prozent gestiegen ist.» Afrika ist nach wie vor am stärksten betroffen.
Weltweit leben etwa 40,8 Millionen Menschen mit HIV, 1,3 Millionen haben sich 2024 mit HIV infiziert, und 630’000 sind daran gestorben. 77 Prozent der Erkrankten haben Zugang zu einer Behandlung. Diese Errungenschaft könnte jedoch, wie auch andere Fortschritte im Bereich der Diagnose und Prävention, durch die drastischen Budgetkürzungen der Trump-Regierung gefährdet sein, glaubt Alexandra Calmy.
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EinloggenAurélie Toninato est journaliste à la rubrique genevoise depuis 2010 et diplômée de l’Académie du journalisme et des médias. Après avoir couvert le domaine de l’Education, elle se charge aujourd’hui essentiellement des questions liées à la Santé.Mehr Infos
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