Wann die Sucht nach ungeraden Taktarten im Jazz ausbrach, lässt sich schwer datieren. Odd Meters, wie man sie auch hierzulande nennt, sind seit Jahrzehnten das Salz in der Suppe. Der schleichende Massentod des Viervierteltakts und die Explosion halsbrecherischer Zählzeiten wie 15/8 oder 17/8 haben aber sicher mit dem Aufstieg der sozialen Medien zu tun.
Auf TikTok und Instagram liefern sich artistische Gemüter seit geraumer Zeit Wettkämpfe, wie weit man überhaupt gehen kann. Parallel tauchten die Tutorials auf, die glaubwürdig vermitteln, dass auch 21/16 oder 35/16, wie sie der zeitweilige König der Polymetrik, der armenische Pianist Tigran Hamasyan, verwendet, kein Hexenwerk sind. Je abenteuerlicher es klingt – man muss den Wahnsinn nur in kleinere Einheiten zerlegen.
Die Büchse der Pandora steht dennoch sperrangelweit offen. Gerade Jüngere glauben, die schönsten Standards durch Odd Meters beleben zu können, und rauben ihnen damit oft die Seele. Auch jenseits des Jazz ist Komplexität Trumpf.
Wenn nicht händisch, dann am Computer
Was aus den Tiefen des Progrocks kommt und die Metalszene aufgemischt hat, findet seine beständige Nahrung in den Rhythmuskonzepten der Weltmusik. Es sind die Compás des spanischen Flamenco, die lateinamerikanischen Claves oder die indischen Talas, die solche Strukturen organisieren. Und wer davon händisch überfordert ist, programmiert sie am Computer.
Wer sich wie der Berliner Kontrabassist Felix Henkelhausen auf dieses Feld begibt, ist also beileibe nicht allein auf weiter Flur. Die Kunst besteht vielmehr darin, sich von der Masse abzuheben. Seine ganz vom Rhythmus her gedachte Band Deranged Particles – auf Deutsch: gestörte Teilchen – tut das mit einer störrischen Energie, die sich vor der Polyrhythmik eines Steve Lehman oder Steve Coleman nicht verstecken muss. Diese Musik hat eine farbenreiche Körperlichkeit, die alle Klischees von der Überlegenheit der internationalen Szene beiseitefegt.
Das Kompliment gefällt ihm. „Odd Meters“, sagt er in einem Neuköllner Café, während im Hintergrund „Solid Air“, ein 50 Jahre altes Album des englischen Folkjazzgenies John Martyn, läuft, „dürfen kein Selbstzweck sein. Auch bei hervorragenden Musikern fehlt mir manchmal die Vielschichtigkeit. Ich finde Musik nur spannend, wenn sie in Ausdruck und Aussage über die pure Komplexität hinausgeht. Das ist auch der Anspruch, den ich an mich selber habe.“
Das Jazzfest Berlin
Unter dem Motto „Where will you run when the world’s on fire“ lädt das Jazzfest Berlin vom kommenden Donnerstag, dem 30.10., an vier Tage lang 120 internationale Musiker und Musikerinnen ein.
Zwischen der Hauptbühne im Haus der Berliner Festspiele, dem Quasimodo und dem A-Trane werden internationale Größen wie Wadada Leo Smith,Vijay Iyer, Patricia Brennan, Tim Berne, David Murray, Barry Guy oder Macaya McCraven erwartet. Details und Karten finden Sie unter diesem Link.
Nervöse Pracht für ein Septett
Bevor sich die Stücke zu Partituren für eine sechsköpfige Band auswuchsen, waren sie für ein Trio konzipiert. Ihre nervöse Pracht kommt aber erst in der jetzigen Besetzung zur Geltung. Mehr Reibung erzeugt mehr Hitze: Dafür sorgen Spitzenmusiker wie der Trompeter Percy Pursglove und der Tenorsaxofonist Philipp Gropper, die Vibraphonistin Evi Filippou, der Pianist Elias Stemeseder und der Drummer Philip Dornbusch.
„Ich wollte Stücke schreiben, die Groove erzeugen“, erklärt Henkelhausen. „Und Groove entsteht durch rhythmischen Kontrapunkt, nicht rhythmisches Unisono-Spiel. Bei alledem geht es mir darum: Wie schreibe ich Rhythmen, die ineinandergreifen und eine Vorwärtsbewegung erzeugen? Viele globale Grooves beruhen auf Verhältnissen von drei gegen zwei oder drei gegen vier. Ich wollte dieses Verhältnis bewahren, aber in Quintolen oder Septolen übersetzen.“
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Felix Henkelhausen, 1995 in Oldenburg geboren, ist Absolvent des Berliner Jazzinstituts und nicht nur auf seinem Instrument, auf dem er eine seltene Beweglichkeit, Intonationssicherheit und Spannkraft besitzt, eine prägende Stimme seiner Generation. Als Leader wie als Sideman ist es kaum möglich, ihm im Dschungel der Berliner Clubs zu entgehen, sodass man glatt auf den Gedanken kommen könnte, dass er, so unermüdlich er auftritt, mindestens zwei oder drei Doppelgänger hat.
„Wenn man grooven will, darf man eigentlich nicht zählen“, hat er gelernt. „Das hält einen nur auf, weil das Momentum nicht mehr durch einen fließt. Der Ball muss rollen, nur dass er hier nicht mit drei oder vier Drehungen rund wird, sondern mit fünf oder sieben.“
Von daher ist es für ihn wichtig, Rhythmus nicht aus einer rein metronomischen Perspektive anzugehen: „Da muss noch Luft sein. Es geht um Sound und Energie und Mikrotiming. In den musikalischen Diskursen, die wir gerade haben, geht davon oft etwas verloren.“
Um den Beat herum
Als strahlendes Gegenbeispiel zu den Präzisionsmechanikern vom Schlage des noch so mitreißend athletisch trommelnden Dave Weckl nennt er Elvin Jones, den Schlagzeuger des klassischen Quartetts von John Coltrane, einen Mann, der so teuflisch um den Beat herumspielen konnte, dass es sich nicht einmal imitieren ließ.
Bei dem amerikanischen Schlagzeuger Jim Black, mit dem Henkelhausen viel gespielt hat, hat er gesehen, wie man sich Odd Meters über balkanische oder westafrikanische Patterns erarbeitet. „Das Eiernde dieser Musik, für die Tänze und stundenlange Rituale eine Rolle spielen, führt auf eine andere Ebene.“ Aber auch die additive Erweiterung klassischer Grooves interessiert ihn.
Sein Basskollege, der Schwede Petter Eldh, kommt ihm in den Sinn, der sich kompositorisch an ähnlichen Techniken orientiert. Oder der dänische Schlagzeuger Peter Bruun. Im Auftrag der Kopenhagener Nationalakademie für Musik hat Bruun, Wahlberliner wie Eldh, gerade eine große Studie mit dem Titel „Multitemporal Movement and Embodiment Through Rhythmic Design“ erstellt, die auf seiner Website nachzulesen ist.
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Das Ziel all dieser Anstrengungen ist, dass es am Ende nicht ausgedacht oder rein mathematisch klingt. Das 2024 erschienene Album „Deranged Particles“ (Fun in the Church) zerstreut diese Bedenken sofort. Wobei man die Band natürlich live erleben muss.
„Nach zwei, drei Jahren“, sagt Felix Henkelhausen, „haben wir natürlich eine ganz andere Tiefe im Umgang mit dem Material gewonnen. Es ist, wie eine fremde Sprache zu lernen. Man muss die rhythmischen und harmonischen Aspekte so verinnerlichen, dass man damit improvisieren kann.“
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Es ist ein großes Glück, dass das lokalen Acts gegenüber sonst nicht besonders aufgeschlossene Jazzfest dieser mit den Sampling- und Elektronikbeiträgen von Valentin Gerhardus nun zum Septett erweiterte Band am Eröffnungsdonnerstag die große Bühne des Hauses der Berliner Festspiele zur Prime Time bereitet.
Henkelhausen arbeitet längst an neuen Stücken, von denen er nur noch nicht sicher ist, ob sie für die Band auch taugen: „Zu komplex ist für eine Band auch nicht gut. Dadurch, dass wir eine so große Gruppe sind und es um Energie und Interaktion geht, beschneidet man sich damit auch – gerade mit einer Band, die nicht jede Woche proben kann.“
