Nach Razzien in vier Polizeirevieren in Frankfurt gerät das hessische Innenministerium unter Druck. Trotz jahrelanger Reformen und Schulungen häufen sich Disziplinarfälle – doch Strafen bleiben die Ausnahme.
Fast zwei Wochen nach den groß angelegten Durchsuchungen in vier Frankfurter Polizeirevieren laufen die Ermittlungen gegen 17 Beamte. „Gegenstand des Verfahrens sind ausschließlich Vorwürfe gegen Bedienstete des 1. Polizeireviers“, teilte die Staatsanwaltschaft Frankfurt auf Anfrage von WELT mit. Hinweise auf vergleichbare Fälle in anderen Frankfurter Revieren oder hessischen Präsidien gebe es nicht.
Erstmals bestätigt die Staatsanwaltschaft außerdem, dass zwei der Geschädigten nach den Einsätzen ärztlich behandelt werden mussten – einer von ihnen bereits während des Polizeieinsatzes. Eine Verbindung zu früheren Ermittlungen, etwa im Kontext der NSU-2.0-Affäre oder der Chatgruppe „Idiotentreff“, schließt die Staatsanwaltschaft jedoch aus.
Mehrere der beschuldigten Beamten seien am Tag der Durchsuchungen nicht im Dienst gewesen, so die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft prüft deshalb auch, ob die Beamten vorab von der Razzia gewusst haben könnten.
Nach WELT-Informationen untersucht eine Arbeitsgruppe mit über einem Dutzend Ermittlern des Landeskriminalamts derzeit insbesondere Einsatzberichte und Videomaterial der beteiligten Beamten, um mögliche Widersprüche zwischen den dienstlichen Dokumentationen und den tatsächlichen Abläufen festzustellen. Im Fokus steht die Frage, ob Berichte und Einsatzdokumentationen nachträglich verändert oder unvollständig geführt wurden. Der Tatvorwurf der Verfolgung Unschuldiger erfordere ohnehin eine genaue Überprüfung solcher Vorgänge, heißt es.
Nach Recherchen von WELT gab es in den vergangenen Jahren Beschwerden über Beamte wegen „unangemessener Härte“, die jedoch nicht konsequent weiterverfolgt worden sein sollen. Ob diese früheren Fälle mit den aktuellen Vorwürfen in Zusammenhang stehen, ist nicht bekannt. Das Innenministerium erklärt: „Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Beschwerden oder Auffälligkeiten zu der betroffenen Dienstgruppe intern gemeldet, aber nicht weiterverfolgt wurden“. Gleichzeitig räumt man in Wiesbaden ein, dass die Zusammenarbeit zwischen Revierleitungen und Dienstgruppen verbessert werden müsse.
Neuer Leiter, alte Strukturen
Das 1. Polizeirevier wurde inzwischen neu besetzt. Der erfahrene Polizeidirektor Stefan Müller übernahm die Leitung am 13. Oktober 2025, wie das Polizeipräsidium Frankfurt bestätigte. Müller soll die Dienststelle organisatorisch stabilisieren und eine engere Aufsicht über die Dienstgruppen sicherstellen. Seine Vorgängerin, eine Beamtin aus dem höheren Dienst, war erst wenige Monate im Amt – ihr Wechsel fiel in die Frühphase der internen Ermittlungen. Die strukturellen Probleme hätte sie in ihrer kurzen Amtszeit nicht lösen können, berichtet ein Insider, der namentlich nicht genannt werden möchte.
Nach Angaben des Ministeriums sollen unter der neuen Leitung die Berichtswege neu geordnet und regelmäßige Fallbesprechungen mit der Führung des Polizeipräsidiums eingeführt werden. Minister Roman Poseck (CDU) kündigte zudem eine „engere Zusammenarbeit zwischen Revierleitung und Dienstgruppen“ an, die künftig verpflichtend werden soll.
Das Innenministerium verweist auf eine Reihe von Maßnahmen, die seit der NSU-2.0-Affäre eingeführt wurden, um eine „Fehler- und Führungskultur“ zu etablieren. Dazu zählen verpflichtende Seminare zu demokratischer Resilienz, Antirassismus und Kultursensibilität an der Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit, regelmäßige Supervisionen und ein Rotationssystem, das verhindern soll, dass sich „problematische Gruppendynamiken“ verfestigen.
Zudem gibt es seit 2020 einen Integritätsbeauftragten sowie einen unabhängigen „Ansprechpartner der Polizei“, an den sich Bedienstete vertraulich wenden können, wenn sie Fehlverhalten melden möchten. Poseck spricht von einer „lernenden Organisation“, in der Integrität und Kontrolle zusammengehören.
Zahlen zur Wirksamkeit gibt es nicht
Das Ministerium räumt auf WELT-Anfrage ein, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) bei den Ermittlungen nicht zwischen Polizeibeschäftigten und anderen Amtsträgern unterscheidet. Damit ist eine Auswertung von Ermittlungen gegen Polizisten nicht möglich. „Eine differenzierte Auswertung von Amtsdelikten gezielt nach Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten ist in der PKS nicht möglich“, heißt es. Außenstehende können so nicht beurteilen, wie groß oder klein das Problem tatsächlich ist.
Die Statistik zeigt lediglich: Zwischen 2019 und 2024 wurden in Hessen jährlich zwischen 43 und 68 Amtsdelikte wie Körperverletzung im Amt oder Strafvereitelung registriert, im Bereich des Polizeipräsidiums Frankfurt meist null bis vier Fälle pro Jahr. Diese Zahlen umfassen auch Lehrkräfte, Justizbedienstete oder Verwaltungsbeamte.
Noch deutlicher wird die Lücke bei den Disziplinarverfahren: Im Polizeipräsidium Frankfurt stiegen sie von elf Fällen im Jahr 2020 auf 22 im Jahr 2024, während nur in wenigen Fällen tatsächliche Maßnahmen ergriffen wurden. Mit „Maßnahmen“ sind im Polizeidienst sowohl disziplinarische Strafen – etwa Verweis, Gehaltskürzung oder Degradierung – als auch organisatorische Schritte wie Versetzung oder Innendienst gemeint. Doch von spürbaren Konsequenzen ist in den meisten Fällen kaum etwas zu sehen.
Hessenweit verdreifachte sich die Zahl der Verfahren im selben Zeitraum – die Zahl der Sanktionen stieg jedoch kaum. Warum viele Disziplinarverfahren ohne Sanktionen enden, bleibt offen. Das Ministerium verweist darauf, dass die Prüfung und Bewertung solcher Fälle in der Verantwortung der Behörden liege und durch ein „strategisches Controlling“ begleitet werde.
Künftig soll das geplante „Polizei- und Verwaltungsbarometer“ als wissenschaftliche Langzeitstudie Auskunft über Organisationskultur, Werteverständnis und Belastungen in der hessischen Polizei geben. Die Ergebnisse liegen jedoch frühestens 2026 vor.
Erneut das 1. Revier
Das 1. Polizeirevier in Frankfurt geriet in den vergangenen Jahren immer wieder wegen rechtsextremer oder rassistischer Vorwürfe in die Schlagzeilen – doch Konsequenzen blieben meist aus. Im sogenannten „NSU 2.0“-Komplex wurden Polizistinnen und Polizisten verdächtigt, persönliche Daten der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz aus Polizeicomputern abgerufen zu haben. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt wollte gegen mehrere Beamte vorgehen, doch Gerichte ließen die Verfahren nicht zu oder stellten sie mangels Beweise ein.
2023 wurde zudem ein Mobbingfall im selben Revier bekannt, der bundesweit für Aufsehen sorgte: Ein Polizist mit arabischem Vornamen wurde von Beamten so massiv schikaniert, dass er schließlich versetzt werden musste. Gegen mehrere Beteiligte laufen Ermittlungen. Das Polizeipräsidium erklärte zwar, es gebe keine Hinweise auf rassistische Beleidigungen, doch der Vorgang steht exemplarisch für eine Kultur des Wegsehens, die das Vertrauen in die Aufsicht weiter erschüttert, heißt es aus Polizeikreisen.
Unabhängig davon sorgte die Chatgruppe „Idiotentreff“ für Empörung: Dort tauschten sich hessische Polizisten über Jahre hinweg mit rassistischen, antisemitischen und gewaltverherrlichenden Inhalten aus. Auch hier blieb es bislang überwiegend bei Disziplinarverfahren – eine strafrechtliche Verurteilung steht bis heute aus. Mehrere Beamte wurden zeitweise suspendiert, später jedoch wieder in den Dienst zurückgeholt. Diese Fälle offenbarten bereits damals strukturelle Schwächen in Aufsicht, Personalführung und Fehlerkultur. Auch hier rückte das 1. Polizeirevier in den Fokus der Ermittlungsbehörden.
Keine neuen Fälle, aber viele offene Fragen
Während die Ermittlungen in Frankfurt weiterlaufen, versucht die Politik, das Vertrauen in die Polizei zu stabilisieren. „Positiv ist, dass die Auffälligkeiten polizeiintern erkannt und von Anfang an konsequent verfolgt wurden“, sagte Poseck gegenüber WELT. Zugleich betonte er: „Eine solche Fehlentwicklung darf gar nicht erst entstehen.“
Dass es eine interne Kontrollinstanz war, die die Ermittlungen ins Rollen brachte, gilt in Wiesbaden als Beleg, dass die Systeme prinzipiell funktionieren können. Doch die Zahlen zeigen, dass das System keine klare Transparenz schafft: Es gibt weder eine zentrale Statistik zu Ermittlungen gegen Polizeibeamte noch eine Auswertung, ob Disziplinarverfahren tatsächlich zu Konsequenzen führen.