Sie gehörte schon immer zu jenen, die sich den Mund nicht verbieten lassen, wenn es darum geht, für Gleichberechtigung, demokratische Werte und Menschenrechte einzutreten. Umso schlimmer, dass Marthe Balzer heute sagen muss: „Ich überlege mir mittlerweile sehr genau, was ich sage und was nicht.“ Das allerdings ist nicht der Grund, warum sie künftig nicht mehr im Landkreis Ebersberg ihre Stimme erheben wird, wo sie für die SPD aktiv und ihr Name seit Jahren mit dem Bündnis „Bunt statt Braun“ verbunden ist, seit 2021 ist sie dessen Sprecherin. Nein, laut werden wird die 47-jährige Mutter von drei Kindern wohl weiterhin, künftig aber tut sie das in Nürnberg.
Eine Woche bevor der Umzugswagen vorfährt, sitzt Marthe Balzer mit den Nachwirkungen einer Erkältung kämpfend zu Hause zwischen halb fertigen Umzugskisten und versucht, für den großen Umbruch in ihrem Leben wieder auf die Beine zu kommen. Gleich wird ihre vierjährige Tochter aus dem Kindergarten kommen. Dass sie noch nicht die Schule besucht, ist ein Grund, den Umzug nach Nürnberg jetzt zu machen. „Der Gedanke war schon lange da“, sagt sie und erzählt von ihrer Oma, die gestorben ist, von ihrem schwer kranken Vater, ihrer Mutter, die sie jetzt unbedingt mehr unterstützen will. Das Schöne daran: „Eine gewisse Vertrautheit ist noch da, ich komme ja nach Hause.“ Balzer ist in Nürnberg aufgewachsen.
Das Fränkische habe sie noch immer im Repertoire, scherzt sie, auch wenn sie inzwischen die meiste Zeit ihres Lebens im Landkreis Ebersberg verbracht habe. Bevor sie 2003 ins Zornedinger Traditionsgasthaus Glonner einheiratete, zwei Kinder bekam, die heute 22 und 19 sind, hatte sie in München gelebt. 2009 zog sie nach Baldham, 2015 nach Ebersberg, wo sie drei Jahre später ihren heutigen Mann kennenlernte – der sie jetzt nach Nürnberg begleitet. Keine Frage für ihn, und als Koch werde er dort auch wieder Arbeit finden, prophezeit Balzer.
Und nun also der Abschied von Ebersberg. Nur acht Wochen habe es gedauert, in Nürnberg genau die Wohnung zu finden, die sie gesucht hatte – schneller als erwartet, räumt sie ein. Über der Whatsapp, mit der sie ihre Mitstreiter von „Bunt statt Braun“ über ihren Weggang informiert hat, habe sie „Rotz und Wasser geheult“, mit jedem Mitglied des Ebersberger SPD-Vorstands einzeln telefoniert. Aber die Entscheidung sei gefallen. Mit Umbrüchen kennt Balzer sich aus.
Marthe Balzer verlässt Ebersberg und zieht zurück in ihre Geburtsstadt Nürnberg. (Foto: Christian Endt)
In München hatte sie mitgeholfen, ab 2011 die ersten „Slutwalks“ zum Protest gegen einseitige Schuldzuweisungen an Vergewaltigungsopfer zu organisieren, dort war sie auch aktiv bei der Flüchtlingshilfe bis sie zum Umzug nach Ebersberg. Sie engagierte sich im Bundesverband berufstätiger Mütter, war dort stellvertretende Vorsitzende. Mitte der 2000er-Jahre verstärkte Balzer eine Zeit lang die Zornedinger Frauenunion – und hatte sich vorher mit ihrer vehementen Kampagne für eine Kinderkrippe in der Gemeinde vom Stern das Attribut „Ursula von der Leyen von Zorneding“ verdient.
„Doch dann kam Seehofer“, der Diskurs um die Flüchtlingskrise veränderte sich, „da fühlte ich mich in der CSU nicht mehr richtig“. Balzer, Tochter aus sozialdemokratischem Elternhaus, trat in die SPD ein, wo sie heute hauptberuflich beim Landesverband angestellt ist und für den Bezirk Oberbayern arbeitet. Sie engagierte sich auch in Ebersberg in der Flüchtlingsarbeit, knüpfte Kontakt zum Bündnis „Bunt statt Braun“, organisierte Veranstaltungen für die Demokratie, stand auf der Bühne, als im Januar 2024 über 2500 Menschen gegen die AfD und ihre Remigrationspläne in Ebersberg auf die Straße gingen, und brachte gemeinsam mit ihren Mitstreitern in diesem Jahr Hunderte Gegendemonstranten gegen eine Anti-Windkraft-Veranstaltung von Querdenkern, Rechtsradikalen und Corona-Leugnern zusammen – um nur ein paar Beispiele aufzuzählen.
„Wir sind die 80 Prozent. Wir sind die Mehrheit.“
Und nun zieht die AfD bei den neuesten Meinungsumfragen mit der CDU gleich, bekäme bei einer Bundestagswahl im Moment nahezu doppelt so viele Stimmen wie Marthe Balzers SPD. Von AfD-Vertretern im Landkreis müssen sich zivilgesellschaftliche Bündnisse wie „Bunt statt Braun“ oder Initiativen wie „Partnerschaft für Demokratie“ als „völlig überflüssig“ bezeichnen lassen. War also alles Engagement umsonst?
„Nein, das würde ich nicht sagen“, erklärt Balzer mit Nachdruck. „Ebersberg war einer von vier Landkreisen bei der Europawahl, in denen die AfD unter zehn Prozent bekommen hat. Weil wir halt auch da waren, weil die Zivilgesellschaft hier diese Partei nicht als Normalität begreift“, vielleicht auch, weil der Zusammenhalt im Landkreis Ebersberg „wirklich großartig“ sei.
„Und zu frustrieren bin ich eh nicht so schnell.“ Wenn man auf den gewaltigen Zulauf schaue, den „Bunt statt Braun“ in den vergangenen Jahren verzeichne, dann mache das Mut. Im Landkreis seien es sicher 100 Menschen, die in irgendeiner Form unterstützen, „allein in der Whatsapp-Gruppe sind wir 67 Personen, zum Stammtisch kommen jetzt 30, wo es früher fünf waren. Und es ist ja nicht so, dass wir hier in der Minderheit wären. Wir sind die 80 Prozent, wir sind die Mehrheit“. Einen Anteil von Menschen mit rechtsextremem Weltbild in der Bevölkerung habe es schon immer gegeben.
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Aber natürlich, „vor 15 Jahren hatten wir noch keine AfD im Parlament, heute werden Plakate der Kolpingfamilie verschmiert, heute haben Menschen auf Demonstrationen Angst zu sprechen, die Gewalt gegen PolitikerInnen wird immer schlimmer.“ Von einer Verrohung des Diskurses spricht Balzer, einer Verschiebung des Sagbaren. Umso wichtiger sei es, mit den Menschen zu reden, mit denen zumindest, die auf der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen. „Die Menschen treffen sich nicht mehr so viel nach Corona.“
Will Marthe Balzer also in Nürnberg auch wieder auf die Straße gehen? „Natürlich, es gibt Dinge, die wir so nicht stehen lassen können als Zivilgesellschaft.“ Die Kontakte zur SPD in der neuen alten Heimat seien schon geknüpft, der Termin der Weihnachtsfeier der Genossen im Kalender eingetragen. „Und wenn es mir langweilig wird, gibt es sicher irgendwo einen Wahlkampfstand, wo sie mich brauchen können.“ Ob es für sie eine Erleichterung sei, den engen Rahmen in Ebersberg zu verlassen, wo sie ja doch jeder kennt? „Also ich freue mich ein Stück weit darauf, jetzt eine von Vielen zu sein.“ Seien in Ebersberg auch mal 200 Menschen zu einer Demo gekommen, würden es in Nürnberg vielleicht 2000. „Und da ist es dann vielleicht nicht immer nötig, dass ich diejenige bin, die was sagt.“
