»Beat-Freund! Wir finden uns am Sonntag, den 31.10.65 10 Uhr Leuschnerplatz zum Protestmarsch ein.« – Keine Forderungen, keine Parolen, kein grafischer Schnickschnack, nur ein Zettel mit Schrift. Drei Jugendliche stellen diesen aus dem Set eines DDR-Kinderdruckkastens her, eigentlich zur Herstellung von Stempeln bestimmt. 174 Flugblätter entstehen so, die sie in den Abendstunden des 25. Oktobers 1965 in Wiederitzsch und im Leipziger Zentrum durch »Ankleben, Abwerfen und Weitergeben« verbreiten. Der Stasibericht vom 9. November 1965 beschreibt pingelig genau, woher die Jugendlichen stammen, dass sie alle ohne Vater aufgewachsen sind, auch dass sie selbst gar nicht an der Demonstration teilgenommen haben, da es ihnen zu gefährlich schien.
Dieser unscheinbare Zettel löst gemeinsam mit der Staatsmacht aus Polizei und Lehrerschaft, die davon in Kenntnis gesetzt im Vorfeld Jugendliche in Schulen und Berufsschulen vor der Teilnahme warnen, eine der größten nichtgenehmigten Demonstrationen in der DDR aus: die sogenannte Beatdemo. Für die Jugendlichen geht es dabei um ein Lebensgefühl. Der Staat will sie vor westlichem Einfluss »beschützen«.
»Dabei geht es ausgesprochen manierlich zu«
Das Politbüro der SED proklamiert 1963 mit dem zweiten Jugendkommuniqué eine tolerante Haltung gegenüber Beatmusik und Rock’n’Roll. In Leipzig entstehen zehn Jugendklubhäuser, 25 Jugendklubs in Wohngebieten und fünf Clubs an künstlerischen Einrichtungen. Hier soll mittels eigenverantwortlicher Programmgestaltung die Freizeit verlebt werden. Bands gründen sich. Klaus Jentzsch (1942–2006) beispielsweise initiiert 1958 die Klaus Renft Combo, die 1962 ihre Einstufung am Kabinett für Kulturarbeit Leipzig als Klaus Renft Quintett erhält und schon ein Jahr später Spielverbot erhält. 1964 tritt Jentzsch mit seiner neuen Band The Butlers beim Deutschlandtreffen der FDJ auf, bei dem auch das Jugendradio DT64 gegründet wird. Die offizielle Beat-Anerkennung folgt in den Medien. So beschreibt Heinz Stern im Neuen Deutschland: »Es ist eine andere Generation, die hier tanzt, eine Generation mit einem anderen Rhythmus. Dabei geht es ausgesprochen manierlich zu. Der Tanz bildet heute ein Grenzgebiet mit der sportlichen Gymnastik. Die Atmosphäre ist sauber und anständig.« Stern kommt zu dem Schluss: »Ich glaube, man kann Tanzmusik nicht in imperialistische und sozialistische unterteilen.« Diese durchaus liberale Einstellung kam auf der Funktionärsebene nicht überall gut an.
Gegen die Ängste vor der sich anders als gewünscht uniform auftretenden jungen Generation und nach den Bildern von der verwüsteten Westberliner Waldbühne nach dem Auftritt der Rolling Stones am 15. September 1965 wurden Disziplinierungsstrategien entwickelt.
Beschluss gegen selbstbestimmte Jugendkultur
Erich Honecker, zu der Zeit im Politbüro der SED für Sicherheitsfragen zuständig, argumentiert mit zunehmender – imaginierter – Jugendkriminalität, um einer selbstbestimmten Jugendkultur den Riegel vorzuschieben. Das Feindbild des »Rowdy« als Schläger wird populär gemacht, obwohl das Wort bereits seit 1887 im Duden steht. Vor diesen Szenarien von Kontrollverlustängsten gegenüber den jungen Menschen verabschiedet das Sekretariat des ZK der SED am 11. Oktober 1965 einen Beschluss gegen selbstbestimmte Jugendkultur. Der Bericht der ständigen Kommission für Jugendfragen des Bezirks Leipzig vom 20. Oktober 1965 bietet für die Stereotypisierung noch die zugehörigen Beschreibungen. Die Sprache ist von »Gammlern« mit »langen, zotteligen Haaren, abnorm, ungesund und unmenschlich ihr Gebaren wie Affen, verrenken Gliedmaßen auf unsittliche Art.« Das schade dem »sauberen und anständigen« Staat DDR und: »Wer die Lust und Freude junger Menschen an Tanz und Musik missbraucht, der muss damit rechnen, dass er in der sozialistischen Gesellschaft keinerlei Verständnis findet.«
Konkret bedeutet das für die Musikgruppen, die als die Auslöser »unsauberen« Verhaltens ausgemacht werden, eine strenge staatliche Überprüfung: Ende Oktober müssen sie Nachweise für Beschäftigungsverhältnisse oder Studentenausweise vorlegen, wie auch ihre Steuerbücher, die letzten zehn Vertragsabschlüsse für Tanzveranstaltungen sowie Repertoirelisten.
Wasserwerfer auf dem Markt am 31. Oktober 1965 | Foto: ABL
Friedlich demonstrieren vs. Härte demonstrieren
Das eingangs beschriebene Flugblatt entsteht, um gegen diese Beschränkungen zu protestieren. Die Staatsorgane sind informiert. In den Schulen und Berufsschulen finden Belehrungen statt, dass die Jugendlichen auf keinen Fall an diesem Sonntag, dem 31. Oktober, um 10 Uhr auf den Wilhelm-Leuschner-Platz gehen sollen. Wer also bisher nichts von den Flugblättern oder der Drangsalierung der Beatgruppen wusste, war spätestens jetzt informiert.
An jenem Sonntag finden sich 500 bis 800 jugendliche Erwachsene auf dem Leuschner-Platz ein. Eine konkrete Planung für den Protest gibt es nicht. Die zahlreich anwesende Staatsmacht in Uniform und Zivil hat hingegen sehr wohl eine: Wasserwerfer werden eingesetzt, um Härte für den »sauberen und anständigen« Staat zu demonstrieren – außer auf dem Leuschner-Platz auch auf dem Markt und vor dem Lichtspieltheater »Capitol« in der Petersstraße, wo sich ebenfalls Jugendliche befanden. Die staatliche Repression trifft auf völlig unvorbereitete Jugendliche – 267 von ihnen werden verhaftet, 162 erhalten Straf- und Erziehungsmaßnahmen. Die Mehrzahl von ihnen geht – mit abgeschnittenen Haaren – für zwei bis drei Wochen ins Arbeitserziehungslager Gleisbau in der Tagebaugrube des VEB BKW Regis. Vereinzelt werden Haftstrafen verhängt. Die Stasi ermittelt zudem gegen 31 Jugendliche im Alter von 16 bis 21 Jahren. Einen Tag später titelt die LVZ auf Seite 2, ohne einen Autorennamen zu nennen und jenseits der Realität: »Ruhestörern und Rowdys das Handwerk gelegt«. Das SED-Hausblatt will wissen, dass die »Anführer teils Diebe, Arbeitsbummelanten und asoziale Elemente« sind, die ihren »Lebensunterhalt auf eine Weise bestreiten, die jeden ehrlichen Bürger empört«. Daher scheint es ganz geradlinig und zielführend zu sein: »Die Anführer der Ausschreitungen sind einer Arbeit zugeführt worden, bei der sie lernen können, wie man sich in unserer Republik zu bewegen und aufzuführen hat.«
Bandverbote und Jugendklubs auf Linie
Vater Staat in seinem Element – und ohne die Realität anzuerkennen, dass diese Jugendlichen in der DDR, mit allen gängigen Mitgliedschaften, sozialisiert sind. In Bezug auf die Musikgruppen werden von 49 Bands in Leipzig 44 verboten – unter anderem The Butlers, The Shatters, The Towers und The Guitar Men.
Nach dem 31. Oktober 1965 werden die Jugendklubs neu auf Linie gebracht mit stärkeren Kontrollen, ob die politisch-ideologische Arbeit nicht zu kurz kommt. Als Alternative zu den Beatgruppen werden innerhalb der FDJ die Singeklubs etabliert. 1968 nimmt das Strafgesetzbuch der DDR in den Paragrafen 215 und 216 Rowdytum als Straftatbestand auf: mit Haftstrafen von fünf und mehr Jahren.
Erinnerungskultur findet den Beat
Im öffentlichen Gedächtnis der Stadt spielte die Beatdemo kaum eine Rolle. Die offizielle Erzählweise der DDR schien auch nach 1989 zu wirken. Im Jahr 2022 stellen die Grünen im Stadtrat den Antrag, dass die Beatdemo Eingang in die städtische Erinnerungskultur finden soll. Dem stimmt der Stadtrat zu und beauftragt das Archiv Bürgerbewegung, eine öffentliche Erinnerung daran zu entwickeln. Das Archiv hatte bereits zum 40. Geburtstag 2005 eine erste detaillierte Ausstellung organisiert und mit 15 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gesprochen. Es entstand zudem die Publikation »All you need is Beat – Jugendsubkultur in Leipzig 1957–1968« (Leipzig 2005).
Zum 60. Geburtstag führte das Archiv in diesem Jahr nochmals Videointerviews mit 15 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die samt Transkriptionen im Archiv Bürgerbewegung einsehbar sind. Juliane Thieme vom Archiv erklärt dazu: »Die Beatdemo von 1965 ist kaum im öffentlichen Bewusstsein der Leipzigerinnen und Leipziger, wir wollen sie mit verschiedenen Formaten stärker ins historische Gedächtnis der Stadt holen.« Daher finden rund um den 31. Oktober Audio-Walks sowie Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen statt. Ihnen steht eine von staatlicher Seite sehr gut dokumentierte Aktion im Stasi- und Staatsarchiv gegenüber. Daraus entwickelte das Archiv auch Material zur Bildungsarbeit auf der Lernplattform »Die andere DDR-Jugend: Unangepasst, eigensinnig, anders«, um Jugendliche multiperspektivisch mit der Beatdemo wie auch anderen Subkulturen bekannt zu machen. Dabei geht es nicht nur um die historischen Ereignisse, sondern auch darum, wie heute mit dem Wissen um Vergangenes Protest artikuliert werden kann.
Veranstaltungen
> Ausstellung von drei Großfotografien auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz: 27.10.–14.11.
> Konzert mit The Butlers »All you need is Beat – 60 Jahre Leipziger Beatdemo und Verbot von The Butlers«: 30.10., 20 Uhr, Lindensaal Markkleeberg (ausverkauft)
> Rundgang durch die Innenstadt zu Orten der Beatdemo mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Live-Beatmusik und Ausschnitten aus dem neuen Audiowalk von Diana Wesser »Freiheit für alle Beatfans«: 31.10., 11 u. 14 Uhr, Treff: Bühne, Wilhelm-Leuschner-Platz, Anmeldung an bildung@archiv-buergerbewegung.de
> »Freiheit für alle Beatfans! 60 Jahre Leipziger Beatdemo!« Empfang, Präsentation und Austausch: 31.10., 17 Uhr, Schulmuseum – Werkstatt für Schulgeschichte Leipzig, Goerdelerring 20, Ausstellung bis 7.11.
> »Mediengeschichte des Protests #4: Beatdemo. Politik und Musik damals und heute«: 31.10., 19.30 Uhr, Stasi-Unterlagen-Archiv Leipzig – Kooperation von Bundeszentrale für politische Bildung, Deutsches Buch- und Schriftmuseum der DNB und Archiv Bürgerbewegung Leipzig
> »Freiheit für alle Beatfans!« Audio-Walk von und mit Diana Wesser durch die Leipziger Innenstadt, 2.11., 14 Uhr, Treffpunkt: Großfotos, Wilhelm-Leuschner-Platz, Anmeldung an bildung@archiv-buergerbewegung.de
