In Brüssel fand in diesen Tagen ein Disput zwischen den zwei mächtigsten Frauen der EU einen vorläufigen Höhepunkt. Seit Monaten herrscht im Europaviertel ein unausgesprochener Konflikt zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Hohen Vertreterin für Außenpolitik, Kaja Kallas. Diesen Machtkampf hat die Kommissionschefin vorerst für sich entschieden, berichtet die Zeitung Welt. Doch der Streit offenbart tieferliegende Risse im Machtgefüge der EU.

Im Zentrum dieses europapolitischen Dramas steht ein Name: Martin Selmayr. Der deutsche Spitzenbeamte sollte nach dem Willen von Kallas den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) reformieren – und damit die europäische Außenpolitik schlagkräftiger machen. Doch Selmayr, der für seinen Machtinstinkt und politische Rücksichtslosigkeit bekannt sein soll, war für viele in den europäischen Hauptstädten das falsche Signal. Vor allem für von der Leyen war er ein rotes Tuch.

Neue Weltordnung: Kallas wollte den EAD reformieren

Selmayr war einst Chefberater von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der in seiner Zeit zwischen 2014 und 2019 als der einflussreichste Beamte in der Geschichte der Brüsseler Behörde galt. Der in Bonn geborene Selmayr stieg wiederum während der Juncker-Epoche in einem Schnellverfahren zum Generalsekretär und damit zum mächtigsten Beamten der Kommission auf. Im Europäische Parlament habe man die Beförderung als „putschartig“ kritisiert.

Kallas, seit Ende 2024 EU-Außenbeauftragte, wollte das, was ihre Vorgänger oft scheuten: den trägen, von nationalen Interessen gelähmten EAD in Bewegung setzen. Die ehemalige estnische Premierministerin, die sich als entschlossene Transatlantikerin und felsenfeste Ukraine-Unterstützerin sieht, wollte die EU-Außenpolitik aus der Defensive holen. Ihr Credo: Die EU dürfe sich sicherheitspolitisch nicht mehr nur auf Washington verlassen. Man wolle ein eigenständiger, ernst zu nehmender Akteur in der Geopolitik werden.

Doch der ambitionierte Reformplan der Estin ging nach hinten los. Von der Leyen soll wegen der von Kallas vorgeschlagenen Personalie Selmayr „stinksauer“ gewesen sein. Nicht zu vergessen: Es war höchstpersönlich von der Leyen, die den mächtigen EU-Beamten 2019 in einer spektakulären Aktion von seinem Posten entlassen hat.

Was folgte, war Brüsseler Machtpolitik in Reinform. Mit einem kaum kaschierten Manöver entzog von der Leyen ihrer Rivalin den Trumpf. Sie schuf ein neues, eher unbedeutendes Amt – den „Beauftragten für Religionsfreiheit“ – und bot es Selmayr prompt an. Ein vergiftetes Geschenk, das ihn aus dem Zugriff des EAD herauslösen und zurück in die Hierarchie der Kommission ziehen soll. Selmayr steht nun vor der Entscheidung, ob er den neuen Posten annimmt, seine aktuelle Rolle als EU-Botschafter im Vatikan fortsetzt oder nach 22 Jahren Brüsseler Dienst den Abschied wählt.

Warum ist der EAD außenpolitisch so schwach?

Damit war Kallas ausmanövriert. Ihr Versuch, den Auswärtigen Dienst mit einem starken Beamten zu reformieren, endete in einer weiteren politischen Niederlage für die Estin. Schon seit Beginn ihrer Amtszeit als höchste EU-Chefdiplomatin ringt die 48-Jährige um mehr Gestaltungsfreiheit in der EU-Außenpolitik. Mit überschaubarem Erfolg.

Kallas wird insbesondere deswegen kritisch gesehen, weil sie in ihrer Funktion als EU-Außenbeauftragte nicht ausreichend Konsultation mit den Mitgliedstaaten betrieben habe – etwa indem sie große Militärhilfe-Pakete für die Ukraine vorgelegt habe, ohne vorher die großen Staaten wie Frankreich einzubinden, und dabei „wie eine Premierministerin“ agiere, anstatt sich in die Rolle einer moderierenden EU-Diplomatin einzufinden. Die Berliner Zeitung berichtete über die wachsende interne Kritik an Kallas. Von der Leyen wiederum beweist zum wiederholten Mal, dass niemand in ihrem Schatten im Brüsseler Europaviertel zu groß werden darf.

Doch auch wenn von der Leyen diesen Machtkampf gewonnen haben mag, bleibt das eigentliche Problem ungelöst. Die Schwäche des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Mit rund 7500 Mitarbeitern, davon etwa 1600 in Brüssel, ist der EAD eigentlich die diplomatische Stimme der EU. In der Realität zweifeln jedoch immer mehr EU-Politiker an der Daseinsberechtigung der Behörde. Das zentrale Argument: Die Mitgliedsländer wollen keine europäische Außenpolitik, die von Beamten aus Brüssel gesteuert wird, weil Berlin, Paris, Rom, Budapest oder Helsinki ihre eigene Souveränität in außenpolitischen Fragen behalten möchten. Der Machtkampf zwischen Kallas und von der Leyen ist deshalb wohl nicht die letzte Episode in der Brüsseler Blase.