Eine Oper über den Amoklauf an einer Schule mit zehn toten Schülern und einer toten Lehrerin, kann das funktionieren? Ja. Das hat die finnische, lange in Paris ansässige (das prägt ihre schwebend vielgestaltig zauberhafte Musik) Komponistin Kaija Saariaho in ihrer letzten Oper „Innocence“ vorgemacht. Das Stück wurde vor drei Jahren beim Festival in Aix-en-Provence uraufgeführt und ist jetzt an der Nürnberger Oper angekommen. Dass viele Menschen sich dort zum Schlussapplaus nach zwei pausenlosen Stunden und einer immer intensiver werdender Musik erheben, zeigt: Neue Opern können durchaus Publikumserfolge sein. Wenn sie so verständlich, inspirierend und stark gemacht sind wie „Innocence“.

Kaija Saariaho (1952–2023) landete vor 25 Jahren in Salzburg mit der Fernliebe-, Trobador- und Sehnsuchtsoper „L’amour de loin“ einen Welterfolg. Dann folgten weitere todessüchtige wie auf Versöhnung zielende Stücke, über die Philosophin Simone Weil, über die Aufklärerin und Naturwissenschaftlerin Émilie du Châtelet, die Vergewaltigungsgeschichte „Adriana Mater“, das Doppelgänger- und Geisterstück „Only the Sound Remains“. Saariahos Opern beschwören schlimmstes Leid, die Musik aber skizziert rettende Alternativen.

Auch „Innocence“ endet trotz aller Brutalität voll zarter Hoffnung auf eine andere Zukunft. Saariaho und ihre Librettistin Sofi Oksanen, deren Romane sind auf Deutsch zu haben, erzählen doppelbödig von einer bürgerlichen, auf einer dunklen Bühne karg und fast ohne Gäste gefeierten Hochzeit, die nach und nach von der großen Lebenslüge dieser Familie geschreddert wird. Denn zehn Jahre zuvor hat der seither totgeschwiegene Bruder des Bräutigams an seiner, einer internationalen Schule ein Amoklaufmassaker verübt. Gesungen wird Finnisch, Rumänisch, Griechisch, Englisch, Schwedisch, Deutsch …

Neben der Hochzeitsgesellschaft singen und sprechen sieben Opfer und Überlebende des Massakers in einem hellen, sich gern drehenden Erinnerungsraum. Nach und nach werden bisher verschwiegene Hintergründe benannt, die das Grauen des Massenmords noch einmal steigern. Denn auch die Freundin des Attentäters, dem hier keine Bühne geboten wird, und sein Bruder, der Bräutigam, waren ins Attentat verwickelt, sie sind immer noch davon fasziniert. Während die Eltern, schaurig in ihrer Bürgernormalität, die Tat ihres Sohnes schönsingen und damit relativieren, also ungeschehen machen wollen. Das finale Geständnis des Bräutigams macht Martin Platz mit hochausgreifend schönem Tenor zu einem quälendem, packenden Mea culpa – doch er bereut nicht, er bewundert und liebt seinen Bruder noch immer.

Es ist durchaus nicht beruhigend, dass diese Oper alle psychologischen Erklärungen für das Massaker ablehnt.

Librettistin Sofi Oksanen verwirft alle psychologischen Erklärungen für das Massaker, sie beharrt wie in einem mittelalterlichen Mysterienspiel darauf, dass in manchen Menschen das Böse in Reinform steckt. Shakespeare hat mit dem Menschenmanipilator Iago im „Othello“ die Blaupause für solch einen abgrundtief bösen Sadisten geliefert. Beruhigend ist das durchaus nicht.

Die von Roland Böer mit Hingabe und Klangsinnlichkeit dirigierte Partitur steigert sich nach und nach zu einem explosiven Panoptikum menschlichen Leids. Regisseur und Intendant Jens-Daniel Herzog erzählt dazu unspektakulär ruhig. Er zeichnet detailliert liebevoll jede der 13 faszinierend singenden, spielenden, sprechenden Menschen auf der Bühne, die alle keine Unschuldslämmer sind.

Ausgangspunkt derHandlung ist eine Hochzeit: Jochen Kupfer und Chloë Morgan in „Innocence“.Ausgangspunkt derHandlung ist eine Hochzeit: Jochen Kupfer und Chloë Morgan in „Innocence“. (Foto: Bettina Stoess)

Zentral für das Stück ist die nach dem Massaker völlig aus der Lebensbahn geworfene Tereza (Almerija Delic), die es durch Zufall als Zugehfrau in diese seltsame Hochzeit verschlagen hat. Tereza ist zutiefst verstört, weil sie nie über den Tod ihrer Tochter Markéta hinweggekommen ist. Erika Hammarberg, als Folksängerin mit intensiv bohrender Stimme, ist faszinierender Kontrapunkt zum Klassikgesang der anderen und zeigt diese Tochter als pubertierend aufmüpfigselbstbewusst eigenwillig. Und die (musikalische) Außenseiterin Markéta ist es schließlich, die dieser Ausnahmeoper ein zukunftsträchtiges Ende ermöglicht. Großes Theaterglück.