
Teures Brot, Obst oder Gemüse ist für immer mehr Menschen ein großes Problem. Aus Verzweiflung greifen viele zu dem, was andere wegwerfen. Eine EZB-Studie zeigt das Ausmaß der Lebensmittelinflation.
Das Team vom Verein Foodsharing in Kassel rettet Lebensmittel, die sonst auf dem Müll gelandet wären. Sie gelten in Supermärkten als unverkäuflich oder haben ihr Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht. Kiloweise Gemüse, Obst und Backwaren kommen so jeden Tag zusammen und werden kostenlos verteilt. Die Nachfrage wird immer größer.
Auch der Mittelschicht fällt es immer schwerer, sich ausreichend Nahrung leisten zu können, sagt Brigitte Utes. Sie habe es gerade erst erlebt, als sie einen der vereinseigenen Schränke befüllen wollte. „Das war gar nicht möglich, weil so viele Menschen schon auf mich gewartet haben.“ Immer wenn sie die nächste Box aus dem Auto holen wollte, sei der Schrank sofort wieder leer gewesen. „Alles, was ich eingeräumt habe, ist sofort wieder rausgenommen worden.“
Auf dem Tisch statt im Müll
Ihre Kollegin Gabriela Regenbogen unterstützt den Verein seit 2018 im Kasseler Stadtteil Kirchditmold. Hier hat sich die Klientel deutlich geändert. „Auch die Mittelschicht knappst und ist froh, wenn sie irgendwo Geld sparen kann.“ Der Stadtteil ist eigentlich einer der wohlhabenderen Kassels. Doch so pauschal gelte das längst nicht mehr. Und: „Die Scham ist weniger geworden.“
Gabriela Regenbogen sagt, dass die Foodsharer versuchen das aufzufangen, was das System nicht mehr schafft. „Hier höre ich ganz häufig: Was für ein Glück, dass es sie gibt! Ach wie toll, dass hätte ich mir sonst nicht leisten können.“ Biobrot, Weintrauben, generell Produkte, die im Supermarkt etwas teurer sind, führen zu rührenden Geschichten bei denen, die sie abholen.
Wenn Lebensmittel wehtun
Das Problem der steigenden Lebensmittelpreise ist mittlerweile so massiv, dass es sogar die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt beschäftigt. Eigentlich ist man hier mit der Entwicklung der Gesamtinflation sehr zufrieden. Die setzt sich aus vier Bereichen zusammen: Energie, Dienstleistungen und Konsumgüter und eben Lebensmittel.
Das Niveau der Preise für drei Bereiche sei gut, nur die Lebensmittel tanzten aus der Reihe, sagt Christiane Nickel. Sie ist die stellvertretende Generaldirektorin Volkswirtschaft bei der EZB. „Momentan liegt die Steigerungsrate der Lebensmittelpreise bei rund drei Prozent, während der gesamte Rest so bei zwei Prozent oder sogar darunter ist.“ Christiane Nickel und ihr Team wollten ganz genau wissen, warum das so ist und so haben eine Studie in Auftrag gegeben.
Diese trägt den Titel: „Wenn Lebensmittel wehtun“. Lebensmittel seien eine Produktgruppe, mit der die Menschen tagtäglich zu tun haben, „weil sie halt essen müssen“, sagt Nickel. Dadurch seien Verbraucher täglich mit den Preisen konfrontiert und im Endeffekt auch belastet. Jeder wisse genau, was sein Kaffee koste. Jede Veränderung ist so direkt spürbar.
Preisanstieg um bis zu 60 Prozent
Für ihre Studie haben die Autoren Nahrungsmittelpreise seit Ende 2019, also seit der Zeit vor der Pandemie, miteinander verglichen. Für die Zentralbänker ist es wichtig zu wissen, woher es kommt, dass auf der einen Seite das Gesamtinflationsziel von zwei Prozent fast erreicht sei, auf der anderen Seite aber, das Gefühl der Menschen bei ihrem Wocheneinkauf ein anderes sei. Und dieses Gefühl kann die Studie der EZB nun mit Zahlen untermauern.
„Es liegt tatsächlich an den Lebensmittelpreisen, die im Moment das Lebensgefühl befeuern, dass einfach alles teuer geworden ist“, sagt Christiane Nickel von der EZB. Die Fleischpreise für Rind, Geflügel und Schwein haben seit 2019 um mehr als 30 Prozent zugelegt. Die Milchpreise sind um rund 40 Prozent gestiegen. Die Butterpreise sogar um 50 Prozent. Spitzenreiter sind Kakao und Schokolade mit rund 60 Prozent Preisanstieg.
„Was die Lebensmittel im Moment so teuer macht, sind vor allem zwei Faktoren. Zum einen die gestiegenen Energiepreise. Viele Lebensmittel werden sehr energieintensiv hergestellt und das hat dann eine direkte Auswirkung auf die Preise“, erklärt Nickel die Ergebnisse der Studie.
„Aber auch der Klimawandel ist ein wichtiger Faktor. Die Erdtemperatur steigt und das bedeutet, dass man größere Gebiete hat, die zum Beispiel Dürren ausgesetzt sind.“ Dieser Faktor habe vor allem bei den enormen Preissteigerungen von Kakao und Kaffee eine entscheidende Rolle gespielt, weil ganze Ernten ausgefallen sind.
Ein Schrecken ohne Ende – oder nicht?
Die EZB-Studie hat den gesamten Euroraum untersucht und festgestellt: Der Anstieg der Lebensmittelpreise variiert stark. Spitzenreiter ist Estland mit 57 Prozent. Deutschland liegt mit 37 Prozent im oberen Mittelfeld. Zypern hat mit 20 Prozent die geringste Lebensmittelinflation erlebt. Christiane Nickel glaubt aber nicht, dass sich die Preisspirale in dem Bereich auch weiterhin immer rasanter nach oben drehen wird.
„Der Lebensmittelinflation per se zu entgehen ist natürlich schwierig, weil man essen muss. Diese ganz starken Preissteigerungsraten, die wir nach der Pandemie hatten, die sehen wir momentan aber nicht.“ Und in die Zukunft geblickt sehen die Studienmacher der EZB, dass die Inflationserwartungen auch stark bei diesen zwei Prozent geankert sind. „Wir erwarten nicht, dass die Inflation in Zukunft stark von diesem Ziel abweicht“, sagt Nickel.
Helfen, weil das System versagt
Eine Erkenntnis aus der Studie der Europäischen Zentralbank bekommen die Lebensmittelretter in Kassel tagtäglich zu spüren. Geringverdiener sind von den Preissteigerungen deutlich mehr betroffen als Menschen mit höheren Einkommen. Der Grund: Bei Haushalten mit geringem Einkommen ist der prozentuale Anteil, der für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel ausgegeben wird, wesentlich höher als bei wohlhabenderen Haushalten.
Bei ihnen machen Lebensmittel oft mehr als 20 Prozent des Gesamtbudgets aus. Steigen die Lebensmittelpreise, schrumpft das verfügbare Budget für andere Ausgaben oder Rücklagen stärker. „Früher lag der Fokus beim Foodsharing auf dem Umweltaspekt. Wir wollten Lebensmittel vor der Mülltonne retten“, erklärt Gabriela Regenbogen. Das langfristige Ziel war es, die Verschwendung von genießbaren Lebensmitteln zu beenden. „Das Ziel ist natürlich geblieben, aber es ist etwas in den Hintergrund getreten.“
Der neue Fokus: versuchen das aufzufangen, was das System immer weniger schafft. Alle Menschen mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. „Lebensmittelinflation“ klingt abstrakt nach Wirtschaft, aber sie ist im Kühlschrank, der immer leerer wird, ganz real zu spüren. Während die EZB auf langfristige Entspannung hofft, suchen viele nach Alternativen. Und immer mehr greifen mittlerweile zu dem, was andere wegwerfen.
