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Der Klimawandel ist mittlerweile die größte Bedrohung für den Regenwald. Brasiliens Umweltministerin Silva erklärt bei tagesschau.de, warum Belém der richtige Ort für die Konferenz ist. Heute treffen die ersten Regierungschefs ein.
tagesschau.de: Frau Silva, Sie stammen aus Acre, einem Bundesstaat im westlichen Amazonasgebiet. Inwieweit ist der Schutz dieser Region für Sie ein persönliches Anliegen?
Marina Silva: Ich habe dort mit meiner Familie gelebt, bis ich 16 war. Der Wald war unsere Lebensgrundlage und Identität. Er versorgte uns mit Nahrung und Arbeit. Mein Vater hat Kautschuk geerntet, meine Mutter betrieb nachhaltige Landwirtschaft, meine Großmutter war Hebamme, als es dort noch keinen Arzt gab. Und ich hatte einen Onkel, der in die Geheimnisse des Waldes eingeweiht war.
Angesichts der schieren Größe des Amazonas können wir durch diesen Ort verstehen, wie klein wir sind. Doch obwohl der Amazonas riesig ist und wir klein, sind wir leider in der Lage, ihn schwer zu schädigen. Seit ich Teil des öffentlichen Lebens und der politischen Sphäre bin – ich habe nicht in der Politik angefangen, sondern in den sozialen Bewegungen – ist einer der Hauptgründe für mein politisches Handeln der Schutz der Wälder. Ich sage Wälder, weil wir im Fall Brasiliens nicht nur über das Amazonasgebiet sprechen, sondern auch über die Mata Atlantica, den Cerrado, den Caatinga, das Pantanal und das Biom der Pampa.
Marina Silva
Brasiliens Umweltministerin Marina Silva wurde 1958 in Rio Branco geboren, einer Stadt in Acre, dem westlichsten Bundesstaat des Landes. Im Alter von sechs Jahren musste sie in den Kautschukwäldern arbeiten, um ihre Familie finanziell zu unterstützen. Im Alter von 16 Jahren brachte Silva sich selbst Lesen und Schreiben bei, zehn Jahrr später schloss sie ein Studium als Historikerin ab. In den Achtzigerjahren engagierte sie sich aktiv für den Umweltschutz und gegen die Militärdiktatur. Mit 36 Jahren wurde sie zur jüngsten Senatorin in der Geschichte des Landes gewählt. Marina Silva war bereits in der ersten Regierung von Präsident Lula da Silva ab 2003 Umweltministerin. 2009 verließ Marina Silva die Regierung Lulas im Streit um den Schutz des Amazonas und trat aus der gemeinsamen sozialistischen Arbeiterpartei aus. 2023 ernannte er sie dennoch erneut zur Umweltministerin.
„Große Herausforderung“
tagesschau.de: Brasilien ist das einzige Land, das zugesichert hat, von 2030 an keine Waldflächen mehr zu roden. Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen?
Silva: Um illegale Aktivitäten zu bekämpfen, verbessern wir die Überwachung. Außerdem unterstützen wir nachhaltige, produktive Aktivitäten, weil man die Entwaldung nicht nur durch Kontrolle zurückdrängen kann. Zum Beispiel durch Tourismus und die Schaffung einer Bioindustrie, mit der lokale Gemeinschaften gestärkt werden sollen.
Wir haben die Entscheidung getroffen, dass 50 Millionen Hektar Wald nicht mehr umgewandelt werden dürfen. Sie werden als Naturschutzgebiete, nationale Wälder, Gebiete mit nachhaltiger Waldbewirtschaftung oder für indigene Gemeinschaften ausgewiesen.
Für all diese Aktivitäten gibt es neue Vorgaben und wirtschaftliche Anreize. Zusammen soll mit diesen Maßnahmen bis 2030 die Abholzung auf Null reduziert werden. Mir ist bewusst, dass das eine Herausforderung ist. Sie ist sehr groß, aber ich bin sehr froh darüber, dass ich mich ihr stellen kann.
„Klimakrise geht in ihre Tragweite über alle Wahlkämpfe hinaus“
tagesschau.de: Im kommenden Jahr finden in Brasilien Bundeswahlen statt. Was sorgt Sie aktuell mehr, die Klimakrise oder der Ausgang der Wahlen?
Silva: Ich glaube, dass man das eine nicht gegen das andere ausspielen kann. Die Klimakrise ist ein Problem von einer Tragweite, die über alle Wahlkampagnen und saisonalen Ereignisse hinausgeht. Deshalb arbeiten wir immer mit strukturellen Maßnahmen, damit sie die amtierenden Regierungen überdauern.
Auch wenn Bolsonaro vier Jahre lang vieles aufgehalten hat, haben wir durch unsere Gesetzgebung bereits die Freisetzung von 450 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid verhindert. Ohne die vier Jahre Unterbrechung durch Bolsonaro hätten wir die Entwaldungsrate aber bereits auf null gesenkt. Sie war bei 27.000 Quadratkilometer im Jahr 2004 und sank auf 4.000 Quadratkilometer im Jahr 2012.
Brasilien versteigert Erdölförderrechte
tagesschau.de: Im Juni hat die brasilianische Bundesagentur für Erdöl- und Erdgasförderung die Rechte für 172 neue Fördergebiete versteigert. Viele davon befinden sich im Amazonasdelta. Wie passt das zu dem Ziel der Vereinten Nationen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu reduzieren, zu dem sich auch Brasilien verpflichtet hat?
Silva: Brasilien hat einen Energiemix, der sauberer ist als in vielen anderen Ländern. 46 Prozent unseres Energiemix ist sauber, 90 Prozent unseres Strommix ist sauber. Brasilien hat sich der „Mission 1,5 Grad“ verschrieben. Auf der Klimakonferenz COP28 in Dubai wurde vor zwei Jahren eine Klimafinanzierung von 1,3 Billionen US-Dollar beschlossen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Leider haben sich einige Länder nicht daran gehalten.
Vor allem die Industrieländer investieren weiterhin rund vier bis sechs Billionen Dollar in fossile Aktivitäten. Brasilien investiert seit Jahrzehnten in Biokraftstoffe. Wir haben mittlerweile den Ethanolanteil in unserem Benzin auf 30 Prozent erhöht, Diesel mischen wir nun 15 Prozent Biokraftstoffe bei. Wir produzieren außerordentlich viel Wind- und Solarstrom und betreiben viele Wasserkraftwerke. Die Produktion von grünem Wasserstoff haben wir ebenso erhöht. Wir wollen nicht nur unseren Energiemix bereinigen, sondern auch dazu beitragen, den Energiemix der Erde sauberer zu machen.
Dubai hat gezeigt, dass dieser Umbau in den entwickelten Öl-Förder- und -Verbraucherländern schneller vorangeht. Die Entwicklungsländer, die historisch weniger Emissionen verursacht haben und deren Armut bekämpft werden muss, folgen dahinter. Die Untersuchungen am Äquator sollen zeigen, ob dort Erdöl vorhanden ist und, falls ja, in welcher Qualität. Natürlich ist es wichtig, erneuerbare Energien auszubauen, und ich hoffe, dass die Welt dies vorantreibt. Dennoch wollen wir prüfen lassen, wie umweltverträglich Bohrungen in den Sedimentschichten der Amazonasmündung sind.
„Die COP30 ist bereits anders als andere Klimakonferenzen“
tagesschau.de: Von großen UN-Konferenzen bleiben am Ende oftmals nur Absichtserklärungen. Wird das diesmal anders sein?
Silva: Ich denke, es ist bereits anders. Die COP30 findet in einem Land statt, mit einer großen Tradition von sozialer Teilhabe. Auch bei G20-Gipfeln oder Treffen der BRICS-Staaten unter brasilianischer Führung war das so. Auch bei der UN-Klimakonferenz wird es eine Reihe offener Diskussionsrunden geben zu den Themen der COP.
Wir haben den Kreis der Völker, der von unserer Ministerin für indigene Völker, Sônia Guajajara, geleitet wird. Es gibt einen Kreis ehemaliger Finanzminister, der damit beauftragt wurde, sich um die Sicherung der notwendigen 1,3 Billionen Dollar zu kümmern, außerdem eine Runde ehemaliger COP-Präsidenten, die überlegen sollen, wie das Regelwerk der UN-Klimakonferenz in Bezug auf ethische Fragen verbessert werden kann.
Reaktion auf Kritik an COP30 in Belém
tagesschau.de: Die Entscheidung, die UN-Klimakonferenz in Belém auszurichten, wurde vielfach kritisiert. Die Stadt sei nicht vorbereitet auf so ein Großereignis, und besonders nachhaltig sei dies ebenfalls nicht. Ist dies der angemessene Ort für eine COP?
Silva: Seit Jahrzehnten höre ich, wie sich Menschen auf der ganzen Welt um den Amazonas sorgen. Vielleicht ist dies der richtige Moment, um zu ermöglichen, dass sich aus dem Diskurs eine Praxis ergibt. Wenn wir nicht aufhören, Kohle, Öl und Gas zu verbrennen, werden unsere Wälder verschwinden. Wir hatten uns dazu entschieden, die COP im Amazonasgebiet auszurichten, weil es dort noch möglich ist, etwas zu bewirken, weil wir hier das Potenzial der Zukunft sehen können.
Leider haben wir bereits 20 Prozent der Amazonaswälder verloren. Im vergangenen Jahr wurde erstmals mehr Fläche durch Brände zerstört, die auf den Klimawandel zurückzuführen waren, als durch Kahlschlag. Tropische Wälder verlieren Wasser, trocknen aus, gehen in Flammen auf oder werden zerstört. Die Verantwortung, das zu verhindern, kann nicht von einem einzigen Land getragen werden, auch wenn sich der Amazonas größtenteils hier befindet. Der Klimawandel wird von uns allen verursacht. Eine Klimakonferenz im Amazonas ist auch ein Zeichen der Solidarität mit den vielen Völkern, die dort leben.
Das Interview führten Oliver Noffke und Azadê Peşmen, RBB