Ernst Michel hat die Shoa überlebt. 674 Tage ist er im Vernichtungslager Auschwitz inhaftiert. Als am 20. November 1945 in Nürnberg der Hauptkriegsverbrecher-Prozess beginnt, sitzt er den Verantwortlichen der Gräueltaten gegenüber: Der 22-Jährige ist als Reporter im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes. Fortan sieht Ernst Michel Hermann Göring, Rudolf Hess, Julius Streicher und die anderen 21 führenden Köpfe des NS-Regimes jeden Tag und berichtet.
Auch die zweite Protagonistin des ARD-Dokudramas „Nürnberg ’45 – Im Angesicht des Bösen“ hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Seweryna Szmaglewska ist polnische Widerstandskämpferin und eine von nur zwei Zeuginnen bei den Nürnberger Prozessen. Mit fester Stimme schildert sie, wie grausam die Nazis die Kinder im KZ Birkenau behandelten.
Zwei unbekannte Opfer der Shoa
Anders als in vielen Verfilmungen über die Nürnberger Prozesse stehen damit zwei Opfer im Mittelpunkt der Handlung – zwei Menschen, deren Schicksal bislang viel zu wenig bekannt ist, findet Regisseur Carsten Gutschmidt. „Ich kannte natürlich die Täter, ich kannte einige Anwälte, man hat auch von Willy Brandt gehört, dass er dabei war, auch von Hemingway. Aber Ernst Michel und Seweryna Szmaglewska waren ein unbeschriebenes Blatt“, so Gutschmidt.
Der Film, produziert unter der Federführung von BR und NDR, verwebt dokumentarische Szenen der Nürnberger Prozesse mit fiktionalen Szenen und Interviews. Darin sind nicht nur die Tochter und der Sohn von Ernst Michel und Seweryna Szmaglewska zu sehen. Der 2016 verstorbene Ernst Michel berichtet selbst von seinen Erlebnissen. „Ich sehe sie an, jeden einzelnen Tag, wie sie dort im Gerichtssaal sitzen. Die meisten waren arrogant, nicht kooperativ. Nicht schuldig. Not guilty, not guilty. Jeder einzelne von ihnen.“
Szmaglewska schreibt Buch über Birkenau „rasend schnell“
Im Film berichtet der Sohn von Seweryna Szmaglewska stellvertretend für seine Mutter. Sie sei im Januar 1945 während eines Todesmarschs geflohen und habe sofort damit begonnen, ihre Erinnerungen an das Lager aufzuschreiben. „Das Buch, das wir heute unter dem Titel ‚Die Frauen von Birkenau‘ kennen, hat sie rasend schnell verfasst, so dass es bereits im Dezember 45 veröffentlicht wurde.“ In polnischen Schulen ist dieses Buch bis heute Pflichtlektüre.
Ernst Michel wird im Film von Jonathan Berlin gespielt. Ihn habe besonders beeindruckt, „dass er es geschafft hat, sich die Worte auch als Journalist zurückzuholen, wofür es eigentlich kaum Worte gibt“, sagte Berlin im BR-Interview. Diese Leistung zeige Michels unglaubliche Lebensbejahung.
Dokudrama „Nürnberg ’45“ macht Geschichte lebendig
Auch für Regisseur Carsten Gutschmidt waren die Dreharbeiten besonders. Die Geschichte der beiden Hauptfiguren machen aus seiner Sicht deutlich, wie unfassbar die Verbrechen des NS-Regimes waren. Gerade für junge Menschen, die keine Zeitzeugen mehr erleben können, sei der Film wichtig. „Das sind einfach zwei junge Schicksale, die sind nicht weit weg von uns, und dass man so auf diese Art und Weise Geschichte lebendiger erzählen kann, das finde ich spannend und hoffe, dass das vom Publikum honoriert wird“, so Gutschmidt.
Tatsächlich gelingt es dem Dokudrama „Nürnberg ’45 – Im Angesicht des Bösen“ eindrucksvoll, die Geschichte der Nürnberger Prozesse korrekt und zugleich emotional darzustellen – nicht zuletzt dadurch, dass die historischen Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen aus dem Saal 600 nachträglich koloriert wurden. Dadurch rückt das Geschehen vor 80 Jahren näher – als wäre es erst gestern gewesen. Auch blicken Ernst Michel und Seweryna Szmaglewska immer wieder direkt in die Kamera und sprechen über ihre Alpträume. Entkommen ist nicht möglich.
Nürnberger Prozesse Geburtsstunde des Völkerrechts
Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess gegen 24 Repräsentanten des NS-Regimes begann am 20. November 1945. Erstmals in der Geschichte wurden Kriegsverbrechen vor einem internationalen Militärtribunal geahndet. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und die zwölf Nachfolgeprozesse gelten als Geburtsstunde des Völkerrechts.