Frankreich hat auf den Tisch gehaut, und die Europäische Kommission wachgerüttelt. In Folge der Entdeckung pornografischer Puppen, die wie Kinder aussehen, und verbotener Waffen (Macheten und Schlagringe) auf der chinesischen Onlinehandelsplattform Shein, hat die französische Regierung am Mittwoch das gerichtliche Verbot der Geschäftstätigkeit im Land für Shein beantragt. Das sei im Lichte des „systematischen und wiederholten Charakters von Gesetzesverletzungen“ unumgänglich, erklärte Innenminister Laurent Nuñez. Shein verursache mit seinem Geschäftsmodell „schwere Schäden für die öffentliche Ordnung.“
Dieses Vorgehen der französischen Regierung hat allerdings einen Schönheitsfehler: Selbst wenn Shein in den französischen Landesgrenzen verboten wird, die Zustellung seiner Pakete untersagt, kann das Unternehmen im Rest der EU weiterwirtschaften. Die Nachbarschaft zu fünf anderen Mitgliedstaaten würde rasch zur Umgehung so eines Verbotes einladen.
Darum hat Premierminister Sébastien Lecornu einen dringenden Brief an die Europäische Kommission geschickt. Seinen Inhalt wollte ein Kommissionssprecher am Donnerstag nicht öffentlich kommentieren. Er dürfte aber ziemlich geharnischt gewesen sein.
Denn schon wenige Stunden später besprach sich Henna Virkkunen, die für Digitalpolitik zuständige Vizepräsidentin der Brüsseler Behörde, via Videokonferenz mit der französischen Digitalministerin, Anne Le Henaff. Eilig wurde auch ein Krisentreffen von Fachbeamten der Generaldirektion Connect in der Kommission mit ihren Pendants des französischen Medienregulators Arcom organisiert.
„Die Bedenken, die in Frankreich erhoben werden, sind genau dieselben, die wir haben“, erklärte der Kommissionssprecher. „Wir nehmen das extrem ernst. Eine Plattform, die pornografische Inhalte oder den Verkauf von Waffen erlaubt, entspricht nicht den EU-Standards, den EU-Werten, und den EU-Gesetzen.“
Das eröffnet dem Grund nach den Weg zum mannigfaltigen Sanktionenkatalog des EU-Gesetzes über digitale Dienste (in der englischen Abkürzung DSA genannt). Sehr großen Onlineplattformen (und als solche hat die Kommission Shein im April vorigen Jahres amtlich klassifiziert) erwachsen aus diesem Gesetz zahlreiche Pflichten.
Das beginnt für alle Plattformen, unabhängig von ihrer Größe, damit, Hinweise auf mögliche Straftaten durch Benutzer, „die eine Gefahr für das Leben oder die Sicherheit einer Person oder von Personen“ darstellen, an die zuständigen nationalen Justizbehörden zu leiten (Artikel 18). Ist eine Plattform auch für Minderjährige zugänglich, müssen ihre Betreiber „geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen ergreifen, um für ein hohes Maß an Privatsphäre, Sicherheit und Schutz von Minderjährigen innerhalb ihres Dienstes zu sorgen“ (Artikel 28).
Diese beiden Pflichten dürfte Shein nach derzeitigem Stand der Erkenntnisse missachtet haben. Weder sind Meldungen über die rechtswidrigen Produkte bekannt, noch hat Shein geeignete Maßnahmen getroffen, damit Minderjährige diese nicht beim Onlineshoppen finden können.
Sehr große Onlineplattformen müssen darüber hinaus auch präventiv gegen die Abgründe der digitalen Welt vorgehen. Sie müssen „sorgfältig alle systemischen Risiken in der Union“ ermitteln, analysieren, und bewerten, die sich aus ihrem Tun ergeben können (Artikel 34). Sie müssen „angemessene, verhältnismäßige und wirksame“ Maßnahmen zur Minderung dieser Risiken ergreifen, sprich: sich überlegen, wie sie ihre Software und Algorithmen programmieren, um der Verwirklichung solcher Risiken vorzubeugen.
Auch hier stellt sich die Frage, ob Shein alles Erforderliche und Zumutbare getan hat, um illegale Praktiken in seinem digitalen Einkaufszentrum zu unterbinden.
Eine Aktion Scharf der französischen Zollbehörden, Antibetrugsbehörde und Gendarmerie am Donnerstag auf dem Flughafen Roissy-Charles De Gaulle legt Zweifel daran nahe. 200.000 Shein-Pakete wurden kontrolliert: Das waren praktisch alle an diesem Tag. Dabei habe man nicht zugelassene und potenziell gesundheitsschädigende Kosmetika, gefährliches Kinderspielzeug, sowie gefälschte oder funktionsunfähige Elektrogeräte aus dem Verkehr gezogen.
Womit sich die Frage nach den möglichen Sanktionen gegen Shein stellt. Eines vorweg: Ein dauerhaftes Geschäftsverbot im Binnenmarkt erlaubt der DSA nicht. Allerdings kann eine Plattform bei Gefahr im Verzug vorübergehend suspendiert werden. Das ist freilich das allerletzte Mittel. Davor kämen Geldstrafen zum Zuge, um gesetzeskonformes Verhalten zu erwirken: bis zu sechs Prozent des weltweiten Konzernumsatzes der Plattform, oder tägliche Zwangsgelder von bis zu fünf Prozent des durchschnittlichen vorjährigen Tagesumsatzes, wenn eine Plattform die Zusammenarbeit mit den EU-Behörden hartnäckig verweigert.
Dieses imposante Arsenal an Maßnahmen hat allerdings eine Crux: den politischen Willen in der Kommission, es einzusetzen. „Ich werde nicht vom Podium aus über die Eröffnung einer Untersuchung von Shein spekulieren“, wies Kommissionssprecher Thomas Regnier Fragen nach etwaigen rechtlichen Schritten zurück. Man sei mit Shein im Kontakt und warte auf Auskünfte.
Die Vorsicht der Kommission ist nicht völlig unberechtigt. In Gesprächen mit der „Presse“ äußerten Beamte mehrfach die Sorge, dass verhängte Geldbußen von den Digitalunternehmen und ihren Spitzenanwälten bekämpft würden. Eine Niederlage vor dem Gerichtshof der EU in Luxemburg würde fatale Präjudizwirkung für die gesamte Digitalpolitik der EU entfalten. „Unsere Fälle müssen absolut wasserdicht sein“, warnte ein Beamter.