Wenn mich Aufgaben ängstigen oder traurig machen, wappne ich mich durch besondere Kleidung. Da gibt es diese Bikerjacke mit den vielen Reißverschlüssen. Den kurzen Rock. Boots mit Absätzen, die beim Gehen knallen. Eine Frisur, bei der mich meine langen Haare auf keinen Fall kitzeln oder auf andere Weise stören: den Dutt. Dazu roten Lippenstift. So richtig rot. Nicht Koralle, nicht Burgunder. Nicht Blut und nicht Feuerwehr. Sondern etwas von allem. Angeblich steht das jeder Frau. Mit einer Einschränkung – es war ja so was von klar, dass eine kommen muss, wäre auch zu schön gewesen: Frauen mit dünnen Lippen oder einer kaum vorhandenen Oberlippe dürfen diese Signalfarbe nicht benutzen, sie sind verdammt zu Rosenholz und Pink, immer schön unauffällig bleiben. Schreibt eine sonst von mir geschätzte britische Beauty-Influencerin. Mein mit verbotener Farbe bemalter Mund leuchtet. Sieht großartig aus. Genau wie der Mini, zu kurz für eine 55-Jährige (raunten einige jüngst bei einer Lesung). Genau wie der Dutt (eine Frisur, die auf allen Shortlists „Was Männer an Frauen hassen“ vertreten ist). Bevor ich aufbreche, werfe ich einen letzten Blick in den Spiegel und finde mich toll. Nicht im Sinne von sexy. Eher stark, etwas einschüchternd.

Eine fette Bibel, aufgeschlagen bei den Psalmen

In der U-Bahn gibt es Gedränge, aber in der Mitte sehe ich einen freien Platz. Der Mann am Fenster sitzt breitbeinig da, sein Oberschenkel ragt in mein Revier, aber weil er derart in sein Buch vertieft ist, verzichte ich darauf, ihn auf seine Ausbreitungstendenzen anzusprechen, hole stattdessen meine Lektüre aus dem Rucksack. Wie immer kann ich mir nicht verkneifen, nach links zu schielen, um herauszukriegen, was er liest. Die Bibel, eine fette Bibel, aufgeschlagen bei den Psalmen, der 86te, groß gedruckt: „Herr, ich bin arm und hilflos.“ Sein Jeansbein nimmt mir wirklich viel Platz weg. Ziemlich unchristlich, denke ich ketzerisch, bevor ich Sigrid Undsets „Kristin Lavranstochter“ aufschlage, echter Suchtstoff übrigens.

„Was liest du?“, fragt der Bibel-Leser

Kurz hinter dem Charlottenplatz geschieht es. „Hallo?“ Ich blicke nicht auf, wahrscheinlich telefoniert er. „Hallo??“ Als ich den Kopf hebe, sehe ich seine Augen hinter einer schicken gelben Lesebrille. „Sei italiana?“ Ach komm, nicht dein Ernst! „Nein“, knurre ich. „Was liest du?“ „Einen Roman“, antworte ich, halte ihm den Titel unter die Nase. Er klappt die Psalmen zu. „Gehst du mit mir Kaffee trinken?“ Aus meinem Rucksack lugen drei Alpenveilchen in Töpfen. „Ich gehe auf den Friedhof.“ „Kann ich dich begleiten?“ „Nein“, sage ich energisch und hebe die Hand mit dem Ring. Lustig, diese alberne Geste funktioniert noch immer, im Gegensatz zu all meinen Worten. Wir wünschen uns gegenseitig einen schönen Sonntag und stimmen darin überein, dass Lesen etwas Gutes ist. Am Hauptbahnhof steigt er aus.