Stephan, in den vergangenen Jahren war es recht still um Selig – was gibt es denn so Neues von euch?

STEPHAN EGGERT: Ruhiger ist es nur, weil bisher kein neues Album entstanden ist. Tatsächlich feiern wir nun schon das dritte Jahr in Folge unser 30-jähriges Jubiläum! Wir gehen oft auf Tour und freuen uns über volle Hallen und gute Vorverkäufe. Aber es wird Zeit, wieder Neues zu wagen. Unser Sänger Jan hat gerade im Oktober seine Solo-Platte veröffentlicht und ist damit im Frühjahr auf Tour – danach wollen wir ab Sommer mit Selig ein neues Kapitel aufschlagen.

Ihr gebt zwischen November und Dezember zahlreiche Konzerte. Sitzen Texte und Noten noch oder müsst ihr im Vorfeld viel proben?

Wir haben noch nie viel geprobt – wir spielen einfach viel, das hält alles frisch. Wir waren ja auch diesen Sommer wieder auf einigen Festivals unterwegs. Von daher genügen zwei Probentage, um ein paar Stücke aufzufrischen, der Rest sitzt.

Ende der 90er führten heftige interne Streitigkeiten zum Aus von Selig, bevor es dann 2008 weiterging. Ist das „Damals“ vergessen?

Vergessen ist das nicht – das war damals eine harte Zeit, wir hatten uns einfach auseinandergelebt. Aber wir haben wieder zueinandergefunden und uns eine zweite Chance gegeben. Das hält bis heute. Abgesehen vom Ausstieg unseres Keyboarders Malte im Jahr 2014 sind wir restlichen vier alle in unveränderter Band-Konstellation zusammen und glücklich miteinander.

Habt ihr einen Schutzmechanismus installiert, damit ihr euch nicht noch einmal derart verkracht?

Wir haben die Abmachung, dass jeder Zeit für sich haben darf – ohne Druck. Wir machen nur, was wirklich alle wollen. In den 90ern war das anders, da kam viel Zwang von außen, und das hat uns damals völlig überfordert und das hat dann auch zum Clash geführt.

Wie ist das für Sie, mit der Band wieder auf Tour zu gehen?

Ich freue mich. Wir sind ja nicht alleine unterwegs, sondern haben auch eine Crew dabei, das sind sechs Leute, mit denen wir schon lange touren. Natürlich gibt’s auf Tour eine gewisse Routine, aber wir spielen nie einfach nur unseren Stiefel runter. Jedes Konzert fühlt sich an wie das erste, mit viel Emotion und Freude. Wir kennen uns als Band und Crew seit Jahren, das ist wie eine große Klassenfahrt. Wenn neue Termine reinkommen, freuen wir uns jedes Mal aufs Wiedersehen und die gemeinsame Zeit.

Selig haben in ihren Liedern ja immer für Träume und Hoffnung plädiert – sind solche Texte eigentlich noch zeitgemäß?

Unsere Texte sind größtenteils zeitlos. Es geht bei uns ja oft um Gefühle und Beziehungen, nicht um bestimmte Epochen. Deshalb funktionieren auch die älteren Songs heute noch gut, wie ich finde. Selbst die Stücke vom letzten Album „Myriaden“ aus der Corona-Zeit passen nach wie vor.

Ihr habt von Anfang an auf Deutsch gesungen. Was waren die Gründe, sich für die deutsche Sprache zu entscheiden?

Das lag vor allem an Jan. Er hat schon immer auf Deutsch geschrieben, Englisch war für ihn ausgeschlossen, von daher stellte sich die Frage gar nicht. In den 90ern wurde zudem deutschsprachige Musik immer populärer. Bands wie die Fantastischen Vier haben gezeigt, dass man mit deutschen Texten coole Musik machen kann. Das hat uns gut in die Karten gespielt (lacht).

„Seit KI in der Musik angekommen ist, nervt mich das total.“

Was ist denn für Sie als Musiker wichtiger? Die Musik oder die Botschaft, die in den Texten transportiert werden soll oder wird?

Für mich steht die Musik im Vordergrund, egal, in welcher Sprache sie gesungen wird. Entscheidend ist die Emotion, die sie vermittelt, also ob sie mich tanzen oder weinen lässt. Aber da denken andere Leute ganz anders drüber. Bei Jan zum Beispiel zählt mehr die Botschaft, und die Musik ist das Bett dafür. Aber für mich geht’s um das Gefühl.

Mittlerweile ist KI das große Thema. Wie gehen Sie privat und beruflich damit um?

Ich finde die Entwicklung schrecklich. Streaming an sich ist großartig. Ich liebe es, Zugriff auf alle Musik der Welt zu haben. Aber seit KI in der Musik angekommen ist, nervt mich das total. In Playlists tauchen plötzlich Retorten-Tracks auf, die klingen wie echte Künstler, aber keine sind. Ich will keine Automatenmusik untergejubelt bekommen, sondern Songs, die von Menschen erdacht wurden und nicht von einer künstlichen Intelligenz. Das finde ich wirklich schauderhaft.

Wie steht es so generell um die deutsche Musikszene, insbesondere um die deutsche Rockmusikszene?

Rock spielt aktuell keine große Rolle mehr. Die deutsche Musikszene ist stark, vor allem im Hip-Hop und Pop, da wird tatsächlich sehr viel auf Deutsch gesungen. Aber deutschsprachige Rockmusik gibt’s kaum noch. Da halten wir tatsächlich noch ein bisschen die Fahne hoch.

Musik kennt ja mittlerweile kaum noch Genregrenzen, alles vermischt sich miteinander wie beispielsweise Elektro mit Rock und Hip-Hop, was früher unvereinbar war. Wie beeinflusst Sie diese Entwicklung als Musiker?

Ich höre sehr gern internationalen Hip-Hop. Früher gab es da wahnsinnig viele Samples, alte Bläser-Samples oder alte Beats aus den 60ern und 70ern. Mittlerweile ist davon vieles elektronisch produziert. Ich muss sagen, ich mag das beides sehr gerne, wenn man Elektronik und analoge Instrumente zusammenbringt. Und ich hoffe, das kann auch für uns eine Option sein, unseren Sound ein bisschen zu erweitern, wenn wir mal wieder ein neues Album machen. Mal schauen, vielleicht spielen wir ein bisschen mit den Möglichkeiten.

Wenn sich Selig im Jahr 2025 gründen würde: Wie stünden die Chancen, heute wieder so bekannt zu werden wie vor 30 Jahren?

Wir müssten völlig anders vorgehen. Damals hat uns das Musikfernsehen enorm geholfen. MTV und das neue Viva waren echte Brandbeschleuniger. Liefen unsere Videos, wurden die Konzerte sofort voller. Heute müssten wir ganz anders herangehen und viel stärker über Social Media arbeiten. Das war damals noch kein Thema.

Macht ihr denn was mit Social Media? Bedient ihr die Kanäle wie Instagram und TikTok und so?

Unser Manager erinnert uns regelmäßig daran, aktiver auf Social Media zu sein – das ist aber nicht so ganz unser Ding.

Die Corona-Maßnahmen sind seit drei Jahren vorbei. Ist bei euch und generell in der Musikbranche alles wieder wie vorher?

Bei uns hat sich das nach Corona zum Glück gut gefangen, ich war da zunächst pessimistisch. Große Acts füllen wieder Stadien und Arenen, aber kleinere Clubs und Bands tun sich weiterhin schwer, die haben teilweise ganz schön um Publikum zu kämpfen. Da ist das Niveau von 2019 noch nicht wieder erreicht.

Apropos Publikum, wer ist denn so euer Publikum?

In den 90ern war unser Publikum so zwischen 14 und 40 Jahre alt. Heute sind viele natürlich älter geworden und bringen ihre Kinder mit. Einige haben uns aber auch erst später entdeckt. Unser Publikum ist inzwischen echt bunt gemischt. Von Teenagern bis über 70-Jährige ist alles dabei.

Wird eure aktuelle Tour ein Selig-Best-of werden?

Es ist natürlich ein Best-of – eine Reise durch all unsere Alben vom ersten bis zum letzten. Aber ein paar Überraschungen werden wir sicher auch noch einbauen – für uns selbst inklusive.

Hintergrund

Seit Mitte der 90er-Jahre zählt Selig zu den prägenden Bands in der deutschen Rockszene. Gegründet 1993 in Hamburg von Jan Plewka (Gesang), Christian Neander (Gitarre), Leo Schmidthals (Bass), Stephan „Stoppel“ Eggert (Schlagzeug) und Malte Neumann (Keyboards), verband die Band von Beginn an grunge-inspirierte Gitarrenriffs mit tiefsinnigen deutschen Texten. Mit Songs wie „Ohne dich“, „Sie hat geschrien“ und „Wenn ich wollte“ eroberte Selig die Charts. Nach der Auflösung 1999 infolge von Streitigkeiten feierte die Band 2008 ein fulminantes Comeback. Seither begeistert Selig wieder auf den großen Bühnen und bleibt sich treu: emotional, ehrlich, intensiv.

Selig live in Bielefeld

Dienstag, 18. November, 20 Uhr, Forum, Bielefeld – das Konzert ist ausverkauft!