Nachts schlafen die meisten. Doch zur Ruhe kommt eine Großstadt wie Leipzig auch dann nicht: Lichtscheue Gestalten und verrücktes Partyvolk machen die Straßen unsicher. Zugleich gibt es nicht wenige, die aus beruflicher Pflicht hellwach und einsatzbereit sein müssen, wenn andere in den Federn liegen. Für unsere Reihe „Nachtarbeit in Leipzig“ konnten wir jetzt die langjährige LVB-Straßenbahnfahrerin Kerstin Werner bei ihrer Schicht begleiten.
An ihre erste Tour mit der Leipziger Straßenbahn, wo sie allein in der Fahrerkabine saß, kann sich Kerstin Werner noch genau erinnern: 1985 war es, sie war gerade 18, frisch ausgelernt. „Das war damals aufregend“, lacht sie. Und auch vierzig Jahre später ist sie als Tram-Fahrerin bei den LVB mit Leib und Seele dabei.
Den Job verdankt sie ihrem Vater
Wir treffen Kerstin Werner am Abend eines herbstlichen Wochentags gegen 19:30 Uhr, wo ihre Nachtschicht am Leipziger Hauptbahnhof beginnt. Sie wird zum Auftakt des Dienstes gleich eine 1 Richtung Stannebeinplatz übernehmen. Der Wagenzug rollt ein. Kurze Besprechung mit dem Fahrerkollegen: keine besonderen Vorkommnisse, keine technischen Probleme.
Sodann macht es sich Kerstin Werner in der warmen Kabine bequem. Sie drückt den Gashebel, im Fachjargon Sollwertgeber, vorsichtig durch. Langsam rollt der Koloss an.
Neulich nachts in Leipzig … Foto: Lucas Böhme
Für Kerstin Werner ein schönes und zugleich vertrautes Gefühl, das sie nicht mehr missen möchte. Auch wenn die 58-Jährige als Teenager einen ganz anderen Traum hatte: Pferdezüchterin wollte sie mal werden, erzählt sie, während sich die XL-Bahn Richtung Leipziger Osten schiebt. Doch zu DDR-Zeiten waren die Möglichkeiten rar gesät und der nötige Notendurchschnitt fast unerreichbar.
Also folgte die gebürtige Lindenthalerin ihrem Vater, der als Lokführer arbeitete und ihr riet, in eine ähnliche Richtung zu gehen. Die Gastronomie, wo ihre Mutter tätig war, hätte sie dagegen nie gereizt, sagt Kerstin Werner. So begann sie 1983 in Leipzig ihre Lehre als Straßenbahnfahrerin. Und blieb.
Plötzlich eine Situation, auf die wir nicht vorbereitet sind
Heute fährt sie meist in den Nachtstunden, wenn der Verkehr nachlässt: „Ich finde es nachts ruhiger“, sagt sie. So ähnlich sieht es wohl auch ihr Partner, der ebenfalls für die LVB per Straßenbahn unterwegs ist. Heute wurde er auf Linie 11 eingeteilt, die auch Kerstin Werner am liebsten mag. Doch überall gilt: Es gibt immer wieder Abwechslung und massenhaft neue Eindrücke, im Gegensatz zum klassischen Bürojob. „Man hat jeden Tag irgendetwas anderes und sieht, wie sich die Stadt entwickelt.“
Inzwischen haben wir die Endstelle Stannebeinplatz erreicht, Kerstin Werner rangiert die Bahn und bereitet die Rücktour Richtung Lausen vor. Angst hat sie auch nachts keine, sagt sie. Doch der Respekt mancher Fahrgäste habe nachgelassen, weiß die zweifache Mutter aus ihrer Beobachtung. Und stets muss sie auf unerwartete Situationen vorbereitet sein. Wie zum Beweis klopft es plötzlich an der Kabinentür: Ein Mann sagt, er sei Zeuge eines Handydiebstahls geworden, kurz danach meldet sich auch der Betroffene.
Kerstin Werner informiert ihren Dispatcher in der Leitstelle, der Kollegen von der Verkehrsaufsicht und die Polizei schickt. Doch die Sache ist, wie sich später herausstellen wird, verwickelt: Der Diebstahl soll schon länger her sein, aber das Opfer meinte, die mutmaßlichen Täter in der Bahn wiedererkannt zu haben. Die sind bereits ausgestiegen. Erst mit deutlicher Verspätung kann Kerstin Werner abfahren. Ihr bleibt nur, per Durchsage um Verständnis zu bitten.
Schattenseiten eines vielseitigen Berufs
Eine Demo mit Polizeieinsatz am selben Abend bringt den Fahrplan zusätzlich durcheinander, eine vorübergehende Umleitung wird durch die Leitstelle arrangiert, eine Extra-Bahn eingesetzt. Kerstin Werner bleibt gelassen – eben professionell.
Die Linie N17 am Hauptbahnhof. Foto: Lucas Böhme
Gedanken macht sich die 58-Jährige eher über die Schattenseiten ihres Berufs: Dazu zählen negative Erlebnisse mit einzelnen Fahrgästen, die rücksichtslos, ungehobelt oder gar aggressiv sind, beispielsweise nicht aussteigen wollen oder darauf bestehen, in der ersten Tür der Bahn einzusteigen, obwohl dort gerade der Fahrerwechsel stattfindet und man bittet, den nächsten Zugang zu nutzen. „Als ob ein Magnet an der ersten Tür ist“, schüttelt Kerstin Werner den Kopf.
Auch die Anonymität unter den LVB-Fahrerinnen und -Fahrern, von denen viele jüngere in den letzten Jahren nachrückten, oft als Quereinsteiger, sei gewachsen. Wie überall: Manche hängen in Pausen eher über ihren Smartphones, als sich zu unterhalten, bedauert Kerstin Werner. Und ihr Arbeitsrhythmus macht Verabredungen mit Freunden zur planerischen Herausforderung: „Ich schicke immer schon ein paar Termine raus.“
Ein ernstes Thema: Unfallrisiko in der Stadt
Die flüchtigen Lichter der Stadt huschen durch die Kabine, während wir durch die City Richtung Lausen rollen. Gerade an Knotenpunkten wie dem Hauptbahnhof ist auch zu fortgeschrittener Stunde an diesem Wochentag noch immer viel los.
Kerstin Werner muss stets konzentriert sein. Denn auch die Unfallgefahr ist ein ernstes Thema, über das nicht immer gern geredet wird, das aber stets mitschwingt. Die routinierte Fahrerin selbst hatte bereits einmal unverschuldet einen Zusammenstoß mit einer Person im Leipziger Süden, die damals zum Glück nur leicht verletzt wurde.
Ein ernstes Thema ist die Unfallgefahr: Ende Mai 2023 war eine Tram unweit vom Hauptbahnhof mit einem Feuerwehrwagen zusammengeprallt, zum Glück gab es hier keine Todesopfer. Foto: Gregor Wünsch
Nicht immer geht es so glimpflich aus: Ein Kollege, den Kerstin Werner kennt, war nach einem Personenunfall mit tödlichem Ausgang lange arbeitsunfähig, fährt jetzt wieder. Doch das Leben ist, selbst wenn einen keine Schuld trifft, danach nie mehr dasselbe. Auch dieses Risiko tragen Bahnfahrerinnen und -fahrer mit sich herum.
Angst hat sie nicht
Gegen Mitternacht ist Pause an der Endstation Leipzig-Lausen. Still und einsam liegt das Betriebsgelände unweit vom Kulkwitzer See in der nächtlichen Finsternis, erhellt vom Laternenschein. Wirkt es nicht etwas unheimlich? Sicher, sagt Kerstin Werner, rüber in das nahe Wäldchen würde sie um diese Zeit nicht gehen. Doch Angst, so betont sie nochmals, ist ihr fremd. Zumal im Notfall dank der Verbindung zur Leitstelle auch rasche Unterstützung da wäre.
Die Endstation Leipzig-Lausen bei Nacht. Foto: Lucas Böhme
Zur Überbrückung steht ein warmer Aufenthaltsraum bereit. Zeit für einen Gang zur Toilette, einen Snack. Mit einer hinzukommenden Fahrerin tauscht sich Kerstin Werner über die neuesten Erlebnisse im Linienalltag aus, ehe sie kurz nach 00:30 Uhr auf die N17 umsteigt. Der junge Kollege, dessen Bahn sie übernimmt, schultert den Rucksack, entschwindet nach einem Plausch in den verdienten Feierabend.
Linienwechsel während einer Schicht sind beim LVB-Fahrpersonal gängig: Ein Umstand, der nicht nur „Betriebsblindheit“ verhindert, sondern auch mit Effizienz bei der Taktung von Fahr- und Dienstplänen zu tun hat.
„Man kann gut davon leben“
Die Tour geht jetzt von Lausen aus Richtung Osten, nach Paunsdorf-Nord. Kerstin Werner genießt die freie Fahrt im separaten Gleisbett, ein angenehmes Gefühl, das sich vom Tagdienst unterscheidet. Bei Umleitungen und im Berufsverkehr sind die Staus manchmal so massiv, dass man selbst zwischen Hauptbahnhof und Augustusplatz eine gefühlte Ewigkeit braucht, berichtet sie. „Das artet dann in Stress aus.“
Auch nach vier Jahrzehnten sitzt Kerstin Werner leidenschaftlich gern in der Fahrerkabine. Foto: Lucas Böhme
Finanziell sieht sie sich und ihren Partner solide aufgestellt: „Mittlerweile kann man gut davon leben. Auch zu Corona-Zeiten war das ein sicherer Job, die LVB zahlen pünktlich.“ Den Groschen öfter umdrehen musste das Straßenbahner-Paar eher in der Nachwendezeit und den frühen Nullerjahren. Damals galt es freilich auch, die heute erwachsenen Töchter von Kerstin Werner zu versorgen, die aus einer früheren Beziehung stammen.
Auch vom schönsten Beruf braucht es mal eine Auszeit
Wir erreichen ohne Zwischenfälle die Endstelle Heiterblick, dann geht es retour. Die Zahl der Fahrgäste ist am Stadtrand, zumal zu dieser Stunde, schon deutlich geringer. Manche kennt Kerstin Werner vom Sehen, kann sie gut abschätzen: „Ich kenne meine Pappenheimer“, schmunzelt sie.
Alle Fahrgäste ausgestiegen? Wurde nichts liegengelassen? Der Check an der Endhaltestelle ist obligatorisch. Einmal fand sie eine vergessene Geige auf einem Sitz, erzählt Kerstin Werner. Foto: Lucas Böhme
Vierzig Dienstjahre hat sie hinter sich – und will weitermachen. Gern erinnert sie sich an die schönsten Erlebnisse während der Arbeit, so etwa 2016, als sie mit einem Kollegen die Straßenbahn-Europameisterschaft gewann.
Doch auch von einem geliebten Beruf braucht man mal Abstand: Kerstin Werner und ihr Partner sind in ihrer Freizeit leidenschaftliche Reisemenschen, waren bereits in Malaysia, Singapur, Dubai, Thailand, Australien. Und in wenigen Tagen starten sie wieder zum Jahresurlaub in die Ferne, nach Hawaii. Solange es geht, muss man seine Träume umsetzen, findet Kerstin Werner: „Wann, wenn nicht jetzt?“ Es ist bereits kurz vor 04:00 Uhr und ihr Dienstende nahe, als sie sich mit einem Lächeln verabschiedet.
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