Berlin, du kannst so hässlich sein: Die Hauptstädter verzweifeln langsam an ihrer Stadt

Verwahrlosung, Verkehrschaos, Geldverschwendung. Die deutsche Hauptstadt hat ihren Ruf als dreckige und dysfunktionale Metropole zementiert. Warum nur ist in Berlin vieles so egal?

NZZ-Redaktion09.11.2025, 12.00 Uhr

Es ist immer etwas wohlfeil, auf Berlin zu schimpfen – aber es ist auch nötig. Denn die deutsche Hauptstadt mit ihren fast vier Millionen Einwohnern befindet sich auf einer schiefen Ebene der Verwahrlosung, die sich mit Slogans wie «arm, aber sexy» nicht länger schönreden lässt.

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Dem schwarz-roten Senat unter CDU-Bürgermeister Kai Wegner ist es nicht im Ansatz gelungen, diesen Trend aufzuhalten. Touristen mögen zwar immer noch in Scharen am Zoo, am Reichstag oder an der Museumsinsel vorbeiziehen und den Niedergang dabei vielleicht kaum bemerken. Doch die Berliner verzweifeln, langsam, aber sicher.

Es gibt keine Geschichte des Neuen, des Aufbruchs oder der entfesselten Kreativität mehr, die die Verslumung der sozialen Umwelt aufwiegen könnte. «Berlin is over», sagte der Podcaster Matze Hielscher vor kurzem in einem vielbeachteten Beitrag: Die Bürger sähen nur noch «vollgepisste Matratzen, Hundekacke-Beutel und Sperrmüll». Sie liebten ihre Stadt nicht mehr.

Obdachlosigkeit, offener Drogenkonsum und Beschaffungskriminalität tragen Unsicherheit in eine Wohnbevölkerung, die schon durch absurd hohe Mieten und eine prekäre Verkehrsinfrastruktur gebeutelt ist.

Dass sich aus solchen Entwicklungen politisches Kapital schlagen lässt, kann man in Donald Trumps USA und bei Javier Milei in Argentinien beobachten. Das ist aber für die deutsche – und die Berliner – Politik gerade kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Die NZZ war an ein paar Hauptstadtorten mit Handlungsbedarf; die Redaktorinnen haben einige Impressionen gesammelt.

Drogensüchtiger im Görlitzer Park.

Drogensüchtiger im Görlitzer Park.

Komplette Verwahrlosung am Bahnhof Zoo

Ecke Hardenbergstrasse und Budapester Strasse: Am Bahnhof Zoo in Charlottenburg, also an einem der meistbesuchten Ausgeh- und Touristenorte Berlins, liegt ein Mann auf dem Bürgersteig. Er ist in eine blaue Kunstfaserdecke gewickelt, Haare und Füsse schauen noch hervor. Um die leblose Gestalt herum sind Abfälle verstreut; neben ihr steht ein Einkaufswagen mit schmutzstarrenden Habseligkeiten.

Eigentlich müssten normal empathische Mitbürger nachschauen, ob dem Mann etwas fehlt, ob er einen Arzt braucht, Hilfe. Aber es ist so derartig klar, dass ihm buchstäblich alles fehlt und dass man Stunden mit einer ohnehin zum Scheitern verurteilten Rettungsaktion verbringen würde, wenn man sich jetzt einmischte, dass man es lieber sein lässt. Deshalb machen alle Passanten einen weiten Bogen um den Menschen.

Der Bahnhof Zoo war in den siebziger und achtziger Jahren die Bühne der Westberliner Drogenszene und des Drogenstrichs – berühmt-berüchtigt geworden durch den autobiografischen Bericht der minderjährigen Heroinabhängigen «Christiane F.» im Magazin «Stern».

Die Station Bahnhof Zoo ist ein Umsteigepunkt für U- und S-Bahn.

Die Station Bahnhof Zoo ist ein Umsteigepunkt für U- und S-Bahn.

Innerhalb der vergangenen zwei oder drei Jahre haben sich die Obdachlosenzahlen in der Stadt verdoppelt – von 25 000 im Jahr 2022 auf mehr als 50 000 heute.

Und auch die Drogensüchtigen sind zurück. Nur handelt es sich nun vor allem um Crackabhängige aus Osteuropa, die rund um den Bahnhof Zoo in grotesk verdrehter Haltung auf dem Fussboden kauern oder, wie die organisierten Bettler in Bertolt Brechts «Dreigroschenoper», als angeblich Behinderte aus Rollstühlen heraus Geld verlangen.

Diese Menschen mit erloschenem Blick hausen in fleckigen Zelten, sie schlafen in Nestern aus Müll – es sind Bilder, wie man sie aus San Francisco oder Los Angeles kennt. Und es ist kein Zufall, dass sich der amerikanische Präsident Donald Trump das «Aufräumen» der Innenstädte auf die Fahnen geschrieben hat: «Zu viele Wahnsinnige in Washington!», sagt er. Die Innenstädte sind offenbar Seismografen für den Zustand der Gesellschaft.

Wer den Bahnhof Zoo tagsüber umrundet – nachts empfiehlt sich das nicht –, sieht etwa hundert Personen im Ausnahmezustand. Und er sieht Security-Leute, Bundespolizisten und Mitarbeiter der Bahnhofsmission, die diesen Personen eventuell eine Suppe reichen, ihnen aber sonst beim Dahinvegetieren zusehen. Was genau sollten sie auch tun?

Der Bahnhof Zoo ist Treffpunkt für viele Obdachlose.

Der Bahnhof Zoo ist Treffpunkt für viele Obdachlose.

Das Tempelhofer Feld: Ein letztes Stück Nostalgie

Der Zürcher kennt das Tempelhofer Feld. Vom Hörensagen oder aus Filmen. Ein kreativer Freiraum soll das Feld sein, die Berliner fahren dort Velo, lassen Drachen fliegen, veranstalten Raves und treffen sich zum Apéro.

Und weil der Zürcher ein bisschen ehrfürchtig nach Berlin schaut – es ist halt wirklich eine Grossstadt –, will er wissen, ob dieses Feld wirklich so besonders ist. Er denkt: Die Berliner halten so verbissen daran fest. Es muss also gute Gründe geben, warum die Berliner nicht einmal eine Randbebauung zulassen. Schliesslich kämpft Berlin, wie Zürich, mit Wohnungsnot.

Ja, die Debatte um das Tempelhofer Feld ist keine lokale Posse. Sie reicht über die Stadt- und sogar über die Landesgrenzen hinaus.

Das Tempelhofer Feld ist die grösste Freifläche in Berlin.

Das Tempelhofer Feld ist die grösste Freifläche in Berlin.

Doch beim Betreten des Feldes weicht die schöne Vorstellung schnell der Ernüchterung. Das Areal ist riesig – und weitgehend leer. Ein paar Drachenflieger hier, ein paar Skater dort. Rennradfahrer drehen ihre Runden – für Tempo hat es genug Platz. Jugendliche spielen Basketball oder Cricket. Am Rand des Feldes stehen Bars und Food-Trucks, dazwischen Hochbeete mit Kräutern, Blumen und Unkraut. Alles wirkt ein bisschen verloren in der Weite.

Nicht einmal alle Freizeitaktivitäten zusammen verbinden sich zu einem Ganzen, als wüssten die Berliner selbst nicht so genau, was sie mit einer Fläche von 500 Fussballfeldern anfangen sollen. Einen Teil des Feldes mit Wohnungen zu überbauen, würde nicht nur das drängendste soziale Problem Berlins lindern, sondern den Raum auch mit Leben füllen. Für kreativen Freiraum wäre immer noch genug Platz vorhanden.

Vielleicht aber hängen die Berliner an diesem Feld, weil es an eine andere Zeit erinnert – an die neunziger Jahre, als niemand hier wohnen wollte, als Platz im Überfluss vorhanden war und die Wohnungen günstig. Heute ist das anders.

Tempelhofer Feld: früher Rollfeld, jetzt Spazierweg.

Tempelhofer Feld: früher Rollfeld, jetzt Spazierweg.

Öffentlicher Nahverkehr: Ein Ort der täglichen Zumutungen

Abendessen in einem hübschen französischen Bistro am Rüdesheimer Platz im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Dann gegen 21 Uhr 30 nach Hause mit der U-Bahn-Linie 3, die zwischen dem Grunewaldsee Krumme Lanke im Westen und der Warschauer Brücke im Osten der Stadt verkehrt.

Der Waggon ist spärlich besetzt, es gibt etliche freie Plätze; am Fenster sitzt eine ältere Dame um die siebzig. An der Haltestelle Breitenbachplatz stürmen sechs oder sieben Kinder, möglicherweise Roma, in den Wagen. Sie sind augenscheinlich zwischen sechs und zwölf Jahre alt und für die kalte Jahreszeit zu dünn gekleidet. Von einem Erziehungsberechtigten ist weit und breit nichts zu sehen – ebenso wenig von einem Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe.

Die Kinder rennen durch den Wagen, kreischen, springen auf die Polster, rücken den Fahrgästen zu Leibe. Die Erwachsenen werfen ihnen strenge Blicke zu, sagen aber nichts. Die Kinder lachen sie aus. Der grösste Junge stellt sich auf die Bank vor der Siebzigjährigen, reckt ihr sein Gesäss hin. Die anderen Kinder lachen und grölen: «Fick! Fick! Fick!» Niemand tut etwas.

Am übernächsten Stopp steigen zwei junge Männer mit türkisch-arabischem Erscheinungsbild in die U-Bahn ein. Die Kinderbande drosselt zunächst vorsichtshalber ihren Ton, doch als auch von dieser Seite keine Ermahnung kommt, drehen sie wieder auf.

Am Wittenbergplatz ist der Spuk dann so plötzlich vorbei, wie er gekommen ist: Die Bande stürzt aus dem Zug. Einer der jungen Männer sagt, lachend, halb an seinen Begleiter und halb an die restlichen Fahrgäste gewandt: «Was war das denn jetzt? Die Wahlkampfhelfer der AfD oder wie?»

Die U-Bahnstation Leinestrasse in Berlin-Neukölln.

Die U-Bahnstation Leinestrasse in Berlin-Neukölln.

Görlitzer Park: Berlins ratlose Drogenpolitik

Vor ein paar Jahren war die Aufregung gross. Plötzlich tauchten vor den Eingängen und auf Gehwegen im Görlitzer Park rosa Markierungen auf. Was war geschehen? Ein eigens eingestellter Parkmanager hatte den herumstreunenden und sich wegen ihrer hohen Zahl gegenseitig auf die Füsse tretenden Dealern Stellflächen zugewiesen.

Von diesen Plätzen sollten sie in Ruhe ihren Geschäften nachgehen, ohne von Kindern auf dem Spielplatz, der Kita-Gruppe, die zum Kinderbauernhof will, oder Anwohnern gestört zu werden. «Lösungen für Interessenkonflikte» sollten so gefunden werden, hiess es dazu.

Diese Aktion ist sicherlich in ihrer Absurdität kaum zu überbieten und wäre wohl in keiner anderen deutschen Stadt ernsthaft in Erwägung gezogen worden. Sie wirft ein Schlaglicht auf den komplett ohnmächtigen Umgang der Berliner Kommunalpolitik mit dem grössten Drogenumschlagplatz in der Hauptstadt.

Geändert hat sich bis heute natürlich wenig. Im Stadtteil Kreuzberg ist der inzwischen komplett versiffte «Görli» immer noch fest in der Hand der Drogenmafia und von zugedröhnten Junkies. Wer in den immerhin etwa 20 Fussballfelder grossen Park will, muss zwangsläufig an einem Spalier grösstenteils afrikanischer Dealer vorbei. Im Park stehen sie in Grüppchen, die Anorakkapuze tief ins Gesucht gezogen, und wispern: «Psst, psst, hallo, gute Ware . .  . brauchst du was?» Andere haben sich im Schatten der Parkmauer häuslich mit Sofa und Holzkohlegrill eingerichtet.

Das Drehkreuz am Eingang in den Görlitzer Park steht schon.

Das Drehkreuz am Eingang in den Görlitzer Park steht schon.

Passanten versuchen, schnell radelnd oder rasch zu Fuss den aufdringlichen Dealern zu entkommen. Lange aufhalten mag sich in diesem typischen Kreuzberger Soziotop ohnehin kaum noch jemand.

Der «Görli» ist ein Experimentierfeld für die Lokalpolitik geworden, die je nach Farbgebung zwischen grünem Verständnis (O-Ton: «Keine Gruppe im Park soll ausgeschlossen werden») und maximaler Härte gegen die Dealer changiert.

Die Menschen, die in der Nähe des Parks wohnen, sind nur noch eines: maximal genervt – von den Junkies, die ihre Notdurft in den Hausfluren verrichten, aber mindestens genauso von der Berliner Politik.

In die Rubrik Berliner Hilflosigkeiten gehört auch der Vorstoss des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner von den Christlichdemokraten, der einen Zaun um den üblen Park errichten will. Ein grosses Drehkreuz an einem der Parkeingänge wurde gerade aufgestellt. Daneben türmen sich Zaunteile, die in den nächsten Wochen aufgebaut werden sollen. Abends – so die Vorstellung – werden dann ähnlich wie in New Yorker oder Pariser Parks die Tore verschlossen. Dealer und Junkies sind ausgesperrt. Dann herrscht endlich Ruhe, so die Illusion.

Der Görlitzer Park ist so gross wie 20 Fussballfelder.

Der Görlitzer Park ist so gross wie 20 Fussballfelder.

Ein Königreich für eine Kreuzkröte

Wenn es eine Sache gibt, die alle Berliner eint, dann ist es die leidige Wohnungssuche. Das Thema hat das Wetter in Sachen Small Talk längst verdrängt. Gemessen daran, dass das Problem sehr viele betrifft, stehen sich die Berliner jedoch erstaunlich oft selbst im Weg, wenn es darum geht, neuen Wohnraum zu schaffen.

Seit sechzehn Jahren versucht etwa der Investor Kurt Krieger auf dem Gelände eines ehemaligen Rangierbahnhofs ein neues Quartier (in Berlin würde man sagen: einen Kiez) aus dem Boden zu stampfen: 2000 Wohnungen, Büros, ein Park. Genau die Art von Projekt, die Berlin dringend braucht. Wäre da nicht ein kleines, schleimiges Problem: die Kreuzkröte.

Epidalea calamita, eigentlich ein Bewohner sandiger Flussauen, hat das Potenzial des Grundstücks ebenfalls erkannt. In den dortigen Tümpeln lässt es sich aus Kreuzkrötensicht wunderbar laichen. Für Naturschützer ist die Kröte allerdings nicht irgendeine, sondern so etwas wie die Blaue Mauritius unter den Amphibien. Die 600 «Individuen», wie sie die Naturschützer nennen, sind die Letzten ihrer Art, zumindest in Berlin. Gegen das Bauprojekt wurde also prompt geklagt.

Krieger zeigte sich grosszügig. Er wollte die Kröten umsiedeln und plante dafür sogar ein neues Biotop auf einem Nachbargrundstück, inklusive Reisighaufen und Erdwällen. Kostenpunkt etwa 30 Millionen Euro. Was tut man nicht alles für die Kreuzkröten. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als könnten die Bagger endlich anrollen.

Aber falsch gedacht. Was Krieger laut den Naturschützern nicht bedacht hatte: Das neue Kreuzkröten-Domizil könnte seinerseits eine andere bedrohte Art gefährden. Die Zauneidechse. Die Umsiedlungspläne liegen derzeit also auf Eis – und mit ihnen das ganze Projekt. Die Berliner haben dadurch zwar weiter keine Wohnungen, aber den Amphibien geht es gut.

In Berlin gibt es an vielen Ecken Müll und Dreck, wie hier in Neukölln.

In Berlin gibt es an vielen Ecken Müll und Dreck, wie hier in Neukölln.

Genervte Polizisten und überforderte Ordnungshüter

Berlins Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter und Mitarbeiter der Ordnungsämter haben keinen leichten Job. Nicht nur sind sie an Silvester rituellen Übergriffen ausgesetzt – auch bei politischen Demonstrationen, von denen es in der Hauptstadt mehr gibt als irgendwo sonst in Deutschland, werden sie manches Mal beschimpft oder körperlich attackiert.

Unbescholtene Bürger können allerdings auch den Eindruck gewinnen, dass die frustrierten Ordnungshüter – quasi zur Kompensation – besonders engagiert gegen weichere Ziele vorgehen. Das zeigt sich zum Beispiel bei den zahlreichen Massen-Sportevents der Läufer, Skater und Fahrradfahrer, die wegen der schönen Berliner Innenstadtkulisse regelmässig zentrale Verkehrsachsen blockieren.

Dass das die betroffenen Anwohner nicht immer nur erfreuen kann, liegt auf der Hand. Dass diese gelegentlich trotz den Wettkämpfen versuchen, ihre Autos oder Wohnungen zu erreichen, wird von Polizisten äusserst pampig unterbunden – harsch weisen sie darauf hin, dass «Menschen» hier gerade gar nichts auf der Strasse zu suchen hätten. Und gern duzen sie dabei ganz unaufgefordert ihre Steuerbürger.

Ein ähnlich drastisches Regime herrscht hingegen nicht etwa bei der Durchsetzung der Schulpflicht für Kinder jedweder Herkunft oder bei der Prüfung von Bürgergeldanträgen, wohl aber bei der bezirklichen Parkraumbewirtschaftung. Wer für seinen neuen Wagen vor Wochen eine Anwohnerparkerlaubnis beantragt, sie aber noch immer nicht erhalten hat, wird von Mitarbeitern des Ordnungsamtes im 18-Stunden-Takt mit 20-Euro-Strafzetteln traktiert, die den «Tatort» und den «Tatvorwurf» (Falschparkieren) festhalten.

Rechtlich ist das natürlich korrekt. Aber wenn die Kollegen Ordnungshüter, die selbstverständlich nur ihre Pflicht tun, schon so oft vor Ort sind – warum scheint es dann so komplett ausgeschlossen zu sein, dass sie, zumindest auf dem Verwaltungswege, gegen den wild abgelegten Sperrmüllhaufen an der Strassenecke vorgehen, der dort sogar noch länger vor sich hin rottet, als man auf den Parkausweis wartet?

Die Stadt Berlin beschäftigt mehr als 18 500 Polizisten.

Die Stadt Berlin beschäftigt mehr als 18 500 Polizisten.

Schimpftiraden, Hupkonzerte, Stinkefinger

Staus gehören zum Leben in der Grossstadt dazu, so wie Liebeskummer oder Prüfungsangst. Das macht die Sache natürlich nicht besser, aber erweitert den Blick. Dann zum Beispiel, wenn sich Autokolonnen an Umleitungen, gesperrten Fahrstreifen und Baustellen entlangquälen.

Oder wenn Autos in den Strassen der Innenstadt nur im Schritttempo vorwärtszuckeln, während sich Fahrradfahrer an den Stossstangen vorbeischlängeln oder ein von hinten heranpreschendes E-Bike mit zwei zappelnden Kleinkindern auf dem Rücksitz den Autospiegel mitnimmt. Aufdringliches Hupen nimmt sich dabei fast wie Begleitmusik aus.

Der tägliche Wahnsinn im Umgang mit Auto, Zweirad und Fussgänger lässt sich nur mit Geduld und Humor ertragen. So kommt es auch, dass Erzählungen über Berliner Stauerlebnisse und besonders kreative Ausweichrouten inzwischen als Bereicherung jeder Party gelten.

Täglicher Anblick: Es geht nur im Schritttempo voran.

Täglicher Anblick: Es geht nur im Schritttempo voran.

Berlin kann sich dabei gleich zwei Rekorde ans Revers heften. Die Metropole gilt als Deutschlands Stauhauptstadt. Im vergangenen Jahr verbrachte der gemeine Autofahrer durchschnittlich 58 Stunden im zäh fliessenden Verkehr oder Stau. Dabei sind Düsseldorf und Hamburg den Hauptstädtern dicht auf den Fersen.

Noch mit einem weiteren Rekord darf sich Berlin schmücken. Seit kurzem führt Deutschlands teuerster Autobahnabschnitt durch die Hauptstadt. Nach immerhin zwölf Jahren Bauzeit wurde im September das 3,2 Kilometer lange Teilstück der A 100 im Stadtteil Treptow eröffnet. Etwa 720 Millionen Euro kostete die neue Fahrstrecke.

Für manche Berliner stellte die Eröffnung wohl solch ein Ereignis dar, dass sie sich schon frühmorgens in eine Schlange der wartenden Autos einreihten, um dann als Erste über die neue Autobahn zu brausen, völlig befreit, ohne Stau.

Allerdings hatten die Berliner Verkehrsplaner offenbar nicht damit gerechnet, dass die Autos auch wieder von der neuen, schicken Autobahn abfahren müssen. Die dreispurige Autobahn mündet nämlich in eine einspurige Stadtstrasse, die sich dann über eine teilweise gesperrte Brücke schlängelt. Genau, es herrschen Chaos und Dauerstau.

Doch bei all den Ärgernissen lässt sich zwischenmenschlich dem Stau etwas abgewinnen: Denn im Warten auf den Vorwärtsgang sind alle Menschen gleich, egal ob in der schicken Dienstkarosse oder im Uralt-Kleinwagen. Nur manch einer sitzt in seinem Gefährt bequemer als andere.

Der neu eröffnete Abschnitt der A 100 in Berlin-Treptow.

Der neu eröffnete Abschnitt der A 100 in Berlin-Treptow.

Berlin-Tegel: Deutschlands teuerstes Flüchtlingsheim

Früher gingen die Flugzeuge vom Stadtflughafen Tegel zu den Sehnsuchtsorten der Berliner: Mallorca, Rom oder New York. Jetzt bieten die verbliebenen Flughafengebäude und das Rollfeld ein Bild der Trostlosigkeit. Als im Winter 2022 die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Massen nach Berlin kamen, fehlte es an Unterbringungsmöglichkeiten. Schnell wurde hier am Rand des Rollfelds eine Massenunterkunft aus Zelten und Baracken hochgezogen.

Eigentlich sollten die Flüchtlinge nur Tage oder wenige Wochen bleiben. Inzwischen ist aus dem Provisorium eine Dauerunterkunft geworden, noch dazu eine überfüllte und chaotische. Zehn bis zwölf Menschen hausen in Wohnwaben, die durch nach oben offene Wände voneinander getrennt sind. Es ist eng, laut und stickig. Es gibt zu wenig Toiletten, Duschen sind oft kaputt und unsauber. Das Essen wird von den Menschen als schlecht und eintönig beschrieben.

Allerdings gibt Berlin für die Unterbringung der bis zu 5000 Geflüchteten mehr als eine Million Euro am Tag aus – etwa 420 Millionen Euro pro Jahr. Das macht je nach Belegung einen Tagessatz von 180 bis 250 Euro pro Geflüchteten. So viel Geld gibt keine weitere Stadt für Geflüchtete aus.

Diese unsagbar hohen Kosten werden nicht etwa hinterfragt oder gar nach unten korrigiert. Nein, Berlin hat dafür eine eigene Begründung. Sie ergibt sich aus einer Kaskade von Subunternehmern, die in Tegel tätig sind und Geld verdienen.

Für die Unterbringung von Geflüchteten ist das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten zuständig. Das betreibt die Zeltstadt nicht selbst, sondern hat den Auftrag an das Deutsche Rote Kreuz (DRK) vergeben. Im Auftrag des DRK sind wieder weitere Hilfsorganisationen im Einsatz, wie etwa der Malteser Hilfsdienst.

Interessant ist auch die Vergabe des Auftrags der Sicherheitsleistungen, die nicht etwa direkt erfolgte. Für die Sicherheit ist eine von der Messe Berlin, einem landeseigenen Betrieb, beauftragte Firma zuständig. Allein der Sicherheitsdienst kostet knapp 250 000 Euro pro Tag. Es gibt noch weitere Firmen und Organisationen, die in Tegel arbeiten. Ausserdem muss Berlin für die inzwischen mehr als 40 Zelte Miete zahlen, sie gehören der Stadt nicht einmal.

All diese Kosten, die den Firmen teilweise schöne Rendite bringen, machen die Flüchtlingsunterkunft zur teuersten in Deutschland. Daran wird sich in naher Zukunft auch nichts ändern. Von Geldverschwendung will Berlin aber nichts wissen. Auch wenn für 250 Euro pro Tag die Menschen in einem luxuriösen Hotelzimmer untergebracht werden könnten – inklusive Vollverpflegung.

Es gibt viele öffentliche Toiletten in Berlin, nur nicht alle sind benutzbar.

Es gibt viele öffentliche Toiletten in Berlin, nur nicht alle sind benutzbar.

Café Achteck: Einer der berlinerischsten Orte

Die Augen auf die Reise-App gerichtet, stolpert eine Gruppe Touristen aus dem U-Bahnhof Schlesisches Tor im Stadtteil Kreuzberg. Wo ist nur das berühmte Café Achteck, das doch als einer der berlinerischsten Orte beschrieben wird? Der ratlose Rundumblick weicht einem freudigen Ausruf. Gegenüber der U-Bahnstation steht ein grüner Metallpavillon, der zwar vier- und nicht achteckig ist. Aber er ist genauso reich verziert und verschnörkelt wie beschrieben.

Die Rede ist von architektonischen Kleinoden, die vor hundert Jahren zumeist den Herren als Erleichterung dienten. Die Berliner nannten die Pissoirs charmant Café Achteck, auch weil einige inzwischen zur Imbissbude umfunktioniert wurden.

Der Imbiss am Schlesischen Tor hat Kultstatus. In der Warteschlange für den Burger herrscht ein Sprachgewirr aus Deutsch, Englisch und Niederländisch. Gebannt schauen die Wartenden auf die rote Anzeigentafel, die die Fertigstellung des Fleischklopses verkünden soll. Obendrüber quietscht die U-Bahn, ringsherum fahren Autos. Tauben flattern. Gemütlichkeit sieht anders aus. Doch das ist nicht so wichtig. Hauptsache, berlinerisch.

Der Görlitzer Park wird auch liebevoll «Görli» genannt.

Der Görlitzer Park wird auch liebevoll «Görli» genannt.