SENDETERMIN So., 09.11.25 | 23:35 Uhr | Das Erste

„Seitenwechsel“ und Gegenprotest in der Stadt an der Saale

Schwärme von Krähen fallen in Deutschland im Herbst ein. Seit alters gelten sie als Unglücksboten oder Vögel der Weisheit. In Halle an der Saale kreisen sie im Osten der Stadt über dem Messegelände. Hier fand am Wochenende die Büchermesse „Seitenwechsel“ statt, die eine Alternative sein will zu den Branchentreffen in Frankfurt und Leipzig.

Susanne Dagen initiiert rechte Buchmesse: „Endkampf“

Initiatorin ist die Buchhändlerin Susanne Dagen aus Dresden, die zu ihren Motiven vorab auf einem Youtube-Kanal erklärte, dass die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt am Main spätestens seit 2017 nicht mehr so gewesen seien, „wie ich sie mir gewünscht hätte“. Sie seien mittlerweile „von einer Art geistigen Ödnis befallen“.

2017 kam es zu Tumulten auf der Frankfurter Buchmesse. Gerichtet waren die Proteste gegen die Präsenz von Verlagen und Autoren, die der Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ einstuft, auch gegen Veranstaltungen des Antaios Verlages und seines Verlegers Götz Kubitschek. In der Folgezeit waren Verlage der neurechten Szene hier unerwünscht und abwesend.

Eine eigene Messe soll das jetzt ändern. 300 Publikumsverlage, auch linke, will Dagen angeschrieben und eingeladen haben. Kein einziger von ihnen ist gekommen. Für Dagen ein weiterer Beleg, auf dem rechten Weg zu sein:

„Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass der politische Gegner jetzt aufgibt. Ich glaube, dass wir jetzt in einer Situation sind, dass selbst diejenigen, die in ihren einsamen Stunden erkennen, dass sie auf dem falschen Dampfer sind, dass sie nach außen hin immer noch entschlossen sich zeigen – das ist der Endkampf.“

Yücel: „Die suchen keine Bühne, sondern bleiben lieber unter sich“

Martialische Worte für eine Veranstaltung, die als harmonisches, familienfreundliches Lesefest beworben wird. Bei der wohl größten rechten Publikumsmesse in der Geschichte des Landes ist der Besucherandrang groß. Das Polizeiaufgebot auch. Kleiner Showdown mit Hunderten von Gegendemonstranten, die fordern, die Messe zu verbieten und Nazis keine Bühne zu bieten.

Dazu sagt Deniz Yücel, Sprecher PEN Berlin: „Diese Redewendung von ‚keine Bühne geben‘, die ist vollkommen an der Zeit vorbei.“ Sie habe in den Neunzigern, in den Nullerjahren funktioniert, „als wir es mit einer NPD und paar Kameradschaften zu tun hatten, also wo die Gewaltbereitschaft sehr viel höher war“:

„Aber heute haben die längst ihre eigenen Bühnen. Die suchen gar nicht mehr die allgemeine Bühne, die meiden sie, weil sie auch die Auseinandersetzung meiden. Die bleiben lieber unter sich.“

ttt-Kamerateam in Messehalle nicht zugelassen

In der Messehalle ist die Presse nicht zugelassen, es herrscht Handy-Verbot. Ausnahmsweise bekommt „ttt“ vom Veranstalter ein spezielles Filmteam gestellt, das jede einzelne von uns gewünschte Aufnahme genehmigen muss und am Ende katastrophale Bild- und Tonqualität liefert – wie die Ausschnitte aus den Interviews mit Cora Stephan und Roland Tichy zeigen.

Absicht oder Unvermögen? Nach unserer Beschwerde hat die Messe – Zitat: „die politische Verantwortung“ – dafür übernommen. Bekannte Akteure sind angereist, um ein bürgerliches Publikum für die Messe zu interessieren.

Konservative Publizisten wie Roland Tichy, Matthias Matussek oder der Schriftsteller Uwe Tellkamp paradieren unbekümmert neben den schwer erträglichen Publikationen des Compact-Magazins, dem fremdenfeindlichen Stuss des Gerhard Hess Verlags oder dem in Götz Kubitscheks Antaios Verlag erschienenen Plädoyer für mehr Rassenhygiene: „Remigration. Ein Vorschlag“ des Rechtsextremen Martin Sellner.

Alles eine Frage von individuellen Präferenzen, glaubt die ehemalige Chefin der sächsischen Grünen, Antje Hermenau. „Ich habe kein Problem damit, auf dieser Messe zu sein. Wie manche Leute manche Verlage einstufen, ist oft sehr subjektiv. Ich werde mich mit den Leuten unterhalten, die ich gerne treffen möchte. Und das sind auch relativ viele. Es sind nämlich Rechte meistens nur einfache Konservative.

Wir-Festival als Gegenentwurf

Halle im Herbst 2025: Nicht jeder ist begeistert von der Idee eines Seitenwechsels. Ein breites Aktionsbündnis von Bürgern hat sich formiert, das Image der Stadt steht auf dem Spiel.

Seit Wochen läuft ein Gegen-Event, das WIR-Festival, am 21. September auf dem Markt eröffnet, offen für jeden, der mitmachen will. Es gibt Schaufensteraktionen, es gibt Lesungen, Konzerte und Podiumsdiskussionen.

Theresa Donner, Buchhändlerin und Sprecherin vom WIR-Festival erklärt im „ttt“-Gespräch, man habe den medialen und öffentlichen Raum nicht unbesetzt lassen, sondern aufklären wollen, „also dass wir die Menschen dazu bringen, sich zu interessieren und ihnen auch zu sagen, was dort stattfindet. Dass es keine normale Buchmesse ist, wer die Akteure sind, was da dahinter steht.“

Über 30.000 Menschen haben eine Petition unterzeichnet, die die Absage der Buchmesse „Seitenwechsel“ forderte, weil sie Hass und Intoleranz fördere.

Die Macher des WIR-Festivals wollten kein Verbot, sie wollen einfach das attraktivere Angebot sein. Kulturkampf in Halle: ein Wettbewerb der Ideen, der Literatur und der sozialen Teilhabe.

Eine Parallelgesellschaft der anderen Art. So liest Buchpreisträgerin Martina Hefter, die Halle kennt und hier arbeitet, aus ihrem Buch „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ – Wie geht es ihr?

„Das WIR-Festival ist ja keine Protestveranstaltung, sonst wären wir ja mit Trillerpfeifen hier und mit Transparenten. Das ist ein Zusammenschluss von mehreren, ganz vielfältigen Aktionen, die zeigen, wie sich Hallenser Bürgerinnen und Bürger eine lebenswerte Gesellschaft vorstellen. Das ist eine Art Gegenentwurf, würde ich sagen, zu den Vorstellungen, die mit dieser rechten und rechtsextremen Buchmesse transportiert werden.“

Eine Stadt, zwei literarische Events, die sich die Existenzberechtigung streitig machen. Normale Ausdifferenzierung im Sortiment der Ideologien? Oder Vorstufe eines geistigen Bürgerkriegs, den das rechte Lager hier eskalieren lassen will?

Mit Rechten reden?

Deniz Yücel, Sprecher PEN Berlin, meint mit Blick auf die Veranstalter und Teilnehmer der rechten Buchmesse: „Die wollen diese Spaltung der Öffentlichkeit. Das kommt denen gelegen. Aber die wird ja auch schon von der anderen Seite genauso betrieben.“ Für ihn sind Ausgrenzung und Selbstabgrenzung zwei Seiten einer Medaille.

„Und wer davon profitiert, da muss man sich nur die Entwicklung der Wahlergebnisse, immer die Gewinn- und Verlustrechnung, anschauen“, fügt Yücel hinzu. Für Halle sei das vielleicht auch eine interessante Situation, zwei Buchmessen auf einmal zu erleben. Um politisch relevant zu werden müsste aus seiner Sicht „irgendeine Form von Interaktion“ stattfinden. „Aber dafür braucht es den Willen der Beteiligten natürlich auf beiden Seiten. Und die extreme Rechte, die braucht das gar nicht mehr.“

Die Krähen über Halle in diesen Herbsttagen sind womöglich ein gutes Omen. Die Vögel haben ein ausgeprägtes Wir-Gefühl, und ihre überraschenden Seitenwechsel gehen praktisch nie in nur eine Richtung.

Autor TV-Beitrag: Rayk Wieland

Stand: 09.11.2025 21:36 Uhr