Senator Bernie Sanders aus Vermont auf einer Pressekonferenz im Kapitol (Washington), 5. November 2025 [AP Photo/J. Scott Applewhite]
Am 3. November veröffentlichte die New York Times auf ihrer Website „The Opinions“ ein ausführliches Videointerview mit Senator Bernie Sanders aus Vermont. Geführt vom Times-Redakteur David Leonhardt bot das Interview Sanders eine weitere Gelegenheit, sich als Gegner von Oligarchie und Autoritarismus zu inszenieren, ohne je die Worte „Kapitalismus“ oder gar „Sozialismus“ auch nur in den Mund zu nehmen.
Bezeichnenderweise konzentrierte sich Bernie Sanders in diesem Interview auf eine nationalistische Linie. Er und sein Gesprächspartner Leonhardt versuchten beharrlich, den Widerstand gegen soziale Ungleichheit und die Interessen der Arbeiterklasse mit Wirtschaftsnationalismus und der Verteidigung des US-Nationalstaats zu verknüpfen.
Sanders und sein pseudolinkes Umfeld spielen eine zutiefst reaktionäre Rolle. Ihr Versuch, den wachsenden Arbeiterwiderstand gegen Trump und die Wirtschaftsoligarchie in ein nationalistisches Fahrwasser zu lenken, bringt dies besonders deutlich zum Ausdruck.
Schon Leo Trotzki hatte in seinem Essay „Nation und Weltwirtschaft“ von 1933 betont, dass die Weltwirtschaft und die internationale Arbeitsteilung im 20. Jahrhundert jegliche nationale Wirtschaft dominieren. Daher spielen Politik und Ideologie des Nationalismus eine im Wesentlichen reaktionäre Rolle. Die Grundlage der sozialistischen Politik der Arbeiterklasse muss deshalb der Internationalismus sein. Trotzki schrieb:
Parallel mit der Formung der Nationalwirtschaft wuchs der Welthandel. Die Entwicklungstendenz äußerte sich – wenigstens für die fortgeschritteneren Länder – in der Verlagerung des Schwerpunkts vom inneren auf den äußeren Markt. War für das 19. Jahrhundert die Verknüpfung des Geschicks der Nation mit dem der Wirtschaft kennzeichnend, so ist die Grundtendenz unseres Jahrhunderts der wachsende Widerspruch zwischen Wirtschaft und Nation.
Er erklärte weiter:
Versuche, die Wirtschaft zu retten, indem man sie mit dem Leichengift des Nationalismus impft, führen zu jener Blutvergiftung, welche den Namen Faschismus trägt (L. Trotzki, „Nation und Weltwirtschaft“, in: Porträt des Nationalsozialismus, Essen 2023, S. 374 u. 376).
Trumps faschistischer Mitverschwörer und Berater Steve Bannon hat vor kurzem in einem Interview mit dem Economist erklärt, das Weiße Haus habe „einen Plan“, um Trump – unter Missachtung der US-Verfassung – für eine dritte Amtszeit an der Macht zu halten. Er bezeichnete seine Politik als „populistisch, nationalistisch“ und wies darauf hin, dass er einen Großteil seiner Positionen und Rhetorik von Bernie Sanders übernommen hat.
Sanders‘ reaktionärer Nationalismus wird in dem New York Times-Interview deutlich sichtbar. Gleich zu Beginn der Diskussion behauptet er: „Die Demokratische Partei war die Partei der Arbeiterklasse“, doch in den 1970ern habe sie begonnen, die Arbeiterklasse aufzugeben. Er erklärt:
Nein, ich denke, wenn man in dieser Zeit mit den Arbeitern gesprochen hat, was ich getan habe, wenn man damals mit der Gewerkschaftsbewegung geredet hat, was ich getan habe, wenn man gesagt hat: „Leute, haltet ihr es für eine gute Idee, dass wir ein Freihandelsabkommen mit China haben?“ – kein Arbeiter in Amerika hat das für eine gute Idee gehalten. Die Unternehmen hielten es für eine gute Idee. Die Washington Post hielt es für eine großartige Idee. Ich weiß nicht, was die New York Times dazu dachte, aber jeder von uns, der mit Gewerkschaften und Arbeitern sprach, verstand, dass die Folge davon ein Zusammenbruch der Industrieproduktion in Amerika und der Verlust von Millionen gut bezahlter Arbeitsplätze sein würde, weil die Konzerne verstanden haben: Wenn ich Menschen in China 30 Cent pro Stunde zahlen kann, warum zum Teufel sollte ich einem Arbeiter in Amerika einen existenzsichernden Lohn zahlen? Wir haben das verstanden.
Die Demokraten waren nie eine Partei der Arbeiterklasse. Im 19. Jahrhundert war die Demokratische Partei die Partei der Sklavenhalter, bis sie im Bürgerkrieg besiegt wurde. Für den Rest des 19. Jahrhunderts und einen Großteil des 20. Jahrhunderts war sie die Partei der Rassentrennung und der Lynchjustiz im Süden. Sie ist und bleibt eine der beiden Parteien des Kapitalismus und des Imperialismus. Das war sogar in der kurzen Zeit der Sozialreformen der 1930er- und 1960er-Jahre so, als Demokratische Regierungen unter dem Druck der Arbeiterkämpfe und aufgeschreckt vom Gespenst der Russischen Revolution und der Gefahr einer Revolution im eigenen Land, Maßnahmen wie die Social Security oder Medicare und Medicaid durchsetzten.
Von großer Bedeutung ist jedoch, dass Sanders auf Wirtschaftsnationalismus zurückgreift, um zu beweisen, dass die Demokraten die Arbeiterklasse aufgegeben haben. Er argumentiert, die Demokraten hätten sich gegen die Arbeiter gewandt, als sie auf den „Freihandel“ mit China setzten. (Tatsächlich haben die USA und China nie ein Freihandelsabkommen unterzeichnet. Im Jahr 1999 schlossen die beiden Länder ein bilaterales Abkommen, das China den Beitritt zur Welthandelsorganisation und den Status normaler Handelsbeziehungen mit den USA ermöglichte.)
Mit anderen Worten dürfen laut Sanders die amerikanischen Arbeiter die Arbeiter in China (und Kanada, Mexiko, Europa und im Rest der Welt) nicht als Klassenverbündete im Kampf gegen den Kapitalismus betrachten, sondern als Feinde in einem Nullsummenspiel um Arbeitsplätze und Löhne. Gemäß dieser Logik müssen sie sich zudem im Wirtschaftskrieg und in künftigen militärischen Kriegen hinter „ihre“ herrschende Klasse stellen und die Rivalen des amerikanischen Imperialismus im Rest der Welt bekämpfen.
Im weiteren Gesprächsverlauf spielt Leonhardt einen Ausschnitt aus einem früheren Interview zwischen Sanders und Ezra Klein ab. Darin erklärt Sanders: „Offene Grenzen. Das ist ein Vorschlag der Koch-Brüder. Ich meine, das ist ein rechter Vorschlag, der im Grunde besagt, dass es keine Vereinigten Staaten gibt.“
Als Reaktion auf den Ausschnitt erklärt Sanders gegenüber Leonhardt: „Sehen Sie, es gibt Leute, die wollen, dass billige Arbeitskräfte ins Land kommen, um die Löhne zu drücken. Daran besteht kein Zweifel.“
Wie alle Opportunisten redet Sanders mit gespaltener Zunge. An einer Stelle des Interviews kritisiert er Trump dafür, nicht gemeldete Immigranten zu Sündenböcken zu machen: „Trump tut eindeutig ungeheure Dinge: Er verweigert den Menschen damit ihre Bürgerrechte und verletzt ihre grundlegende Menschenwürde …“
Doch im nächsten Atemzug erklärt er:
Nun, was ich über die Biden-Regierung denke: Solange wir Nationalstaaten wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und Mexiko haben, gibt es Grenzen. Und ohne Grenzen gibt es in gewisser Weise keinen Nationalstaat. Und Biden hat zum Ende seiner Amtszeit versucht, einige Fortschritte zu machen. Sie haben die Bilder aus Texas gesehen von allen möglichen, nicht angemeldeten Leuten, und das stößt nicht auf Anklang. Und es ist nicht richtig. Wir brauchen eine Einwanderungspolitik, aber auch starke Grenzen, Punkt.
Letzten Monat sprach Sanders im Podcast des Trump-Unterstützers Tom Dillon, der bereits Interviews mit Steve Bannon, JD Vance, der Abgeordneten Marjorie Taylor Greene und anderen Faschisten geführt hatte. Sanders lobte Trumps Grenzpolitik und erklärte, dieser habe es besser gemacht als Biden:
Haben die Vereinigten Staaten also, historisch gesehen, unter Demokraten und Republikanern gute Arbeit beim Grenzschutz geleistet? Die Antwort lautet: Nein. Trump hat bessere Arbeit geleistet. Wissen Sie, ich mag Trump nicht, aber wir brauchen eine sichere Grenze, und das ist nicht so schwer. Biden hat es nicht geschafft.
Im gleichen Interview wiederholte Sanders seine Position: „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“, und er bekräftigte seine Unterstützung für den US-Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine.
Zum Schluss des New York Times-Interviews fragt Leonhardt: „Gibt es eine Form von progressivem Patriotismus, die den rechten Nationalismus bekämpfen kann?“
Sanders antwortet: „Das ist eine gute Frage.“
Leonhardt fragt weiter: „Ich weiß nicht, ob Sie sich selbst als Patrioten sehen?“
Daraufhin erklärt Sanders:
Absolut (…) Sie wollen also einen Nationalismus? Einen patriotischen Nationalismus? Das ist es. Menschen haben gekämpft und sind gestorben, nicht nur im Bürgerkrieg und im Unabhängigkeitskrieg. Sie sind im Zweiten Weltkrieg gestorben, um die Demokratie zu verteidigen. Und wir brauchen eine Regierung und eine Wirtschaft, die für uns alle funktioniert, nicht nur für eine Handvoll reicher Wahlkampfspender. Da haben Sie Ihren Nationalismus.
Sanders ist politisch nicht völlig ungebildet. Aus seiner Jugendzeit, als er behauptet hatte, dem Marxismus nahezustehen, und die Kubanische Revolution unterstützte, weiß er genug über Geschichte und Sozialismus. Er versteht, dass der Zweite Weltkrieg im Kern ein Konflikt zwischen imperialistischen Mächten war. Während die Stalinisten (wie Sanders genau weiß) zynischer Weise im Interesse der sowjetischen Bürokratie versuchten, den Krieg als Kampf für die Demokratie darzustellen, führte die Roosevelt-Regierung den Krieg, um die globalen Interessen der Wall Street und amerikanischer Konzerne zu sichern.
Streiks von Arbeitern, insbesondere der Kohlebergleute, gegen brutale Ausbeutung wurden mit staatlicher Unterdrückung niedergeschlagen. Die US-Trotzkisten, die die imperialistischen Interessen der herrschenden Klasse aufdeckten, wurden inhaftiert. Nach dem Krieg wurde eine gnadenlose Hexenjagd gegen die Linke entfesselt, und Sozialisten wurden rücksichtslos aus den Gewerkschaften entfernt, um den innenpolitischen Widerstand gegen die gewaltsamen internationalen Operationen der CIA und des militärisch-industriellen Komplexes zu unterdrücken.
Sanders Propagierung von nationalistischem Populismus findet sich auch bei den Democratic Socialists of America (DSA) und anderen pseudolinken Organisationen, die in Wirklichkeit nicht die Interessen der Arbeiterklasse, sondern privilegierter Teile des Kleinbürgertums ausdrücken. Letzten Monat veröffentlichte Jacobin, das inoffizielle Sprachrohr der Democratic Socialists of America (DSA), nach den landesweiten „No Kings“-Massenprotesten einen Artikel von Meagan Day mit dem Titel „Patriotismus gegen Autoritarismus“.
Echter Sozialismus beruht auf Internationalismus. Das ist so seit den Zeiten von Marx und Engels, von Lenin und Trotzki und bis heute, der Zeit des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ ist nach wie vor der Schlachtruf der klassenbewussten Arbeiterklasse. Heute ist er die Grundlage für den Kampf gegen Oligarchie, Faschismus und Krieg.