Was fasziniert Sie an Bürokratie?

Jeder hat Geschichten über Bürokratie zu erzählen – oft sind es Erfahrungen von Frustration und Ohnmacht, die in humorvolle Berichte verwandelt werden. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass ich vor nicht einmal zwei Jahren gebeten wurde, einen Brief von Hand zu schreiben, ihn einzuscannen und per E-Mail zu schicken, um meine Zustimmung zum Erhalt meines Passworts für ein Online-Universitätskonto zu geben. Das ist ein absurdes Beispiel für die seltsamen Mischformen, die beim Übergang von analogen zu digitalen Diensten entstehen. Solche persönlichen Begegnungen mit der Bürokratie haben mir gezeigt, dass sie, obwohl sie oft als langweilig, mühsam oder rein prozedural abgetan wird, tatsächlich einen großen Teil unserer Lebenserfahrung prägt. Sie betrifft nicht nur die Organisation der Gesellschaft, sondern auch unsere Vorstellungen, Beschreibungen und Empfindungen davon. Bürokratie umfasst verschiedene Ebenen von Macht, Regulierung, Dokumentation und Affekt. Sie sagt etwas darüber aus, wie Menschen mit organisatorischen Strukturen interagieren und wie Institutionen die Schaffung von Identität und Erinnerung bestimmen.

Wie sind Sie zu diesem Fachgebiet gekommen?

Meine persönlichen Erfahrungen mit Bürokratie hatten bereits mein Interesse an deren fiktionalen Darstellungen geweckt. Akademisch habe ich mich mit diesem Thema erst während meines Studiums der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Western University in Kanada beschäftigt. Der Kurs von Prof. Jonathan Boulter über das Archiv in zeitgenössischen Romanen öffnete mir die Augen für die ästhetischen und affektiven Aspekte der Archivierung, indem er darüber sprach, wie Archivräume und -praktiken – die oft als neutral und sachlich angesehen werden – Gefühle wie Trauer und Melancholie hervorrufen und unsere Beziehung zur Vergangenheit komplizieren. Dies veranlasste mich, die literarische Figur des Büroangestellten – Archivare, Schreiber, Kopisten – über Jahrhunderte hinweg zu untersuchen, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Viele berühmte Autoren haben sich in ihren Büchern mit Bürokratie und Verwaltung beschäftigt. Warum ist das so ein ergiebiges Thema?

Bürokratie ist faszinierend, weil sie an der Grenze zwischen Alltag, Macht und Vorstellungskraft liegt. Anne-Marie Bijaoui-Baron sagt, dass es eine Art „Mythologie“ der Bürokratie gibt. In dieser Mythologie gibt es Klischees, Humor und Karikaturen. Sie vereinfacht und erhält unser Bild von Institutionen. Die Spannung zwischen Bürokratie als etwas Furchterregendes und als Quelle der Komik ist meiner Meinung nach ein Grund, warum Autoren immer wieder darauf zurückkommen.

Welche Fragen und Ängste werden angesprochen?

In Literatur, Film, Spielen oder Kunst thematisieren Werke, die sich mit Bürokratie befassen, oft einige unserer grundlegendsten Ängste vor einem Leben in Systemen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Sie befassen sich mit Fragen der Macht – wer Zugang erhält, wer ausgeschlossen wird und warum Entscheidungsprozesse oft undurchsichtig oder scheinbar willkürlich sind. Sie spiegeln auch Ängste vor Entpersonalisierung wider: Im Interesse einer effizienten Bearbeitung werden Einzelfälle oft auf Akten, Zahlen oder künstliche Kategorien reduziert.

Gleichzeitig thematisieren diese Geschichten die Kluft zwischen der Komplexität der realen Welt und dem Modell der „idealen“ Bürokratie: einem effizienten, rationalen, unpersönlichen System, das im öffentlichen Interesse arbeitet. Während dieser Entwurf in der Theorie wünschenswert klingt, bleiben Bürokratien in der Praxis oft hinter diesen Erwartungen zurück und führen zu Ungerechtigkeit, Undurchsichtigkeit, Redundanzen oder regelrechten Absurditäten. Die Fiktion reagiert auf diese Diskrepanz, indem sie Ängste vor Verwaltungsfehlern, Willkür oder totaler Überwachung dramatisiert; allerdings ist nicht alles düster: Viele Werke spielen mit den komischen Aspekten bürokratischer Systeme.

Was können wir aus aktuellen literarischen Werken zum Thema Bürokratie lernen?

Die zeitgenössische Literatur zeigt uns, dass Bürokratie kein Relikt der Vergangenheit ist, sondern eine sich ständig weiterentwickelnde Präsenz in unserem Leben, insbesondere da digitale Technologien die Art und Weise verändern, wie Staaten und Institutionen mit Individuen interagieren. Romane wie Helen Phillips‘ „The Beautiful Bureaucrat” (2015) oder Moya Costellos „The Office as a Boat” (2000) beleuchten die Hybridität zwischen analogen und digitalen Systemen. Fernsehserien wie „Severance” (2023–2025) problematisieren das Ideal der Work-Life-Balance, das eine perfekte Trennung zwischen beiden Bereichen fordert. Videospiele wie „Papers, Please“ (2013), „The Stanley Parable“ (2013) und „The Darkest Files“ (2025) lehren uns, aufmerksam zu sein für die Handlungsfähigkeit des Einzelnen.

Sie beschäftigen sich mit einer „Ästhetik der Bürokratie“. Wie können wir uns das vorstellen?

Das variiert natürlich von einer Verwaltungskultur zur anderen, aber rhetorische Strategien wie ausgedehnte Wiederholungen, Tautologien und Serialität sind sehr verbreitet. Das Büroleben wird oft in staubigen, gedämpften Farbtönen (Grau, Beige und Braun) dargestellt, um das Gefühl von Langeweile, Monotonie und Angst zu verstärken.

Häufig wird die Monotonie des Alltäglichen jedoch durch surreale, bizarre und sogar magisch-realistische Elemente unterbrochen, deren Absurdität willkürliche und lächerliche bürokratische Anforderungen widerspiegelt – Flann O’Briens „Der dritte Polizist“, Ismail Kadares „Der Palast der Träume“, Moya Costellos „Das Büro als Boot“ oder Terry Gilliams Filme sind dafür Paradebeispiele.

Darüber hinaus gibt es bereits in der Populärkultur zahlreiche Anspielungen auf Redundanz, Indexikalität und Selbstreferenzialität, wie beispielsweise in der berühmten Episode, in der Asterix und Obelix sich den Hürden der römischen Verwaltung stellen müssen. Es gibt auch eine Vielzahl von Werken, die sich mithilfe mystischer Untertöne mit der Verwaltung befassen. Ich finde es interessant, dass das Labyrinth, die Maschinerie und groteske Monster drei Metaphern sind, die in Beschreibungen von Bürokratien verschiedener Kulturen und im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auftauchen.

Glauben Sie, dass Geschichten über Bürokratie unsere Meinung über reale Institutionen und Reformen beeinflussen können?

Das tun sie auf jeden Fall. Dies wird seit über einem halben Jahrhundert immer wieder durch wegweisende Forschungsarbeiten belegt, die fiktionalen Darstellungen eine nicht zu vernachlässigende Rolle in Studien zur Verwaltung einräumen. Man denke nur daran, wie oft wir Situationen und Verfahren als „kafkaesk“ bezeichnen, wenn wir mit scheinbar unüberwindbaren administrativen Hindernissen konfrontiert sind. Bürokratische Fiktion ist zweifellos Teil unseres gemeinsamen Verständnisses davon, wie Institutionen funktionieren (oder nicht funktionieren), und hat sowohl zur Entstehung als auch zur Infragestellung von Stereotypen über die Arbeit der öffentlichen und privaten Verwaltung wesentlich beigetragen.

Welche Themen könnten die nächste Generation von Geschichten über Bürokratie prägen?

In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts erlebten Büro-Romane einen Boom, in denen verschiedene Aspekte des modernen Arbeitslebens hinterfragt wurden – räumliche und virtuelle Aspekte natürlich, aber auch wirtschaftliche, geschlechtsspezifische, rassistische und postkoloniale, um nur einige zu nennen. Auch Umweltbelange, globale Gesundheitskrisen, aktuelle Kritik an Unternehmensrhetorik und Wirtschaftsethik finden darin Beachtung. Die Diskussion über die vorhersehbaren und unvorhersehbaren Auswirkungen der Integration von KI und sozialen Medien in die öffentliche und private Verwaltung wird sicherlich weiter zunehmen. Und natürlich kann man nicht ignorieren, dass ein Großteil der Büroarbeit derzeit außerhalb des traditionellen Büros und mit beträchtlicher internationaler Mobilität erledigt wird, ein Phänomen, das die Dokumenten-Abläufe neu gestaltet und neue Formen sozialer und wirtschaftlicher Prekarität hervorbringt.

Aber all dies sind nur Vermutungen, die auf aktuellen Trends basieren. Ich bin sehr gespannt, wie sich unsere realen Bürokratien und die, die wir uns vorstellen, weiterhin gegenseitig beeinflussen werden – und damit zeigen, dass kulturelle Darstellungen diese Systeme nicht nur widerspiegeln, sondern auch die Macht haben, still und leise unser Verständnis davon und unseren Umgang mit ihnen in der realen Welt neu zu gestalten. Meine Intuition sagt mir, dass die Forschung auf diesem Gebiet zunehmend an Bedeutung gewinnen wird.