Ein bisschen sentimental schaut Walter Renner, als er die alte blaue Uniformjacke in die Hand nimmt. Die Motten haben etwas daran herumgekaut, aber stolz prangt am Ärmel das Wappen: „Stadtpolizei München“ darunter das Münchner Kindl. Diese Uniform trug Renner 18 Jahre, und dann noch einmal 22 Jahre die andere, die bayerische. An diesen Wechsel kann er sich auch jetzt, mit 88 Jahren, noch gut erinnern: 1975, vor 50 Jahren, wurde die Münchner Stadtpolizei in die bayerische Landespolizei integriert. „Verstaatlicht“, sagten und sagen in diesem Fall sogar CSU-Minister.

Die kommunale Münchner Polizei war die letzte in Bayern, die ihre Eigenständigkeit verlor. Die bayerische Verfassung, die zu großen Teilen auf den Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner zurückgeht, den einzigen bayerischen Ministerpräsidenten, der nicht der CSU angehörte, sieht in ihrem Artikel 83 unter anderem vor, dass die örtliche Polizei in den „eigenen Wirkungskreis der Gemeinden“ falle. In der Praxis sah das so aus, dass allen Kommunen mit mehr als 10 000 Einwohnern eine eigene Polizei unterhalten durften.

Diese Delegation an die Kommunen entsprang gewiss den Erfahrungen der Nazi-Zeit, als die Polizei nicht dazu da war, Recht und Gesetz durchzusetzen, sondern allein den Interessen der Nationalsozialisten zu folgen hatte. Christian Ude, der frühere Oberbürgermeister Münchens (SPD), interviewte Wilhelm Hoegner 1975, auf dem Höhepunkt der Debatte um die „Verstaatlichung“, für ein Buchprojekt und kam dabei auch auf die aktuellen Pläne zu sprechen. Ude scheint heute noch zu erschauern, wenn er sich erinnert, wie Hoegner ihn plötzlich anschrie: „Ich sage nur: Pöhner!“

Ernst Pöhner war von 1919 an Polizeipräsident in München und hatte stets rechtsradikal agitiert, weshalb er 1921 von seinem Posten zurücktreten musste. Danach war er Rat am Obersten Bayerischen Landesgericht. Das hielt ihn aber nicht davon ab, sich 1923 am Ludendorff-Hitler-Putsch zu beteiligen, der im „Marsch auf die Feldherrnhalle“ vermutlich nicht geendet hätte, hätte sich nicht ein junger Polizeileutnant namens Michael von Godin über alle Befehlsketten hinweggesetzt und am Odeonsplatz auf die Putschisten schießen lassen.

Für Hoegner war Ernst Pöhner das Paradebeispiel dafür, wie die Polizei einen Staat ins Unrecht führen kann, wenn sie zu viel unkontrollierte Macht erhält. Deshalb hielt er zeit seines Lebens an der Idee der kommunal verankerten Polizei fest.

In der Diskussion um die Verstaatlichung der Stadtpolizeien, die lange vor 1975 begann, sprangen Hoegner Abgeordnete der Landtags-SPD bei – nicht jedoch die Kämmerer der jeweiligen Gemeinden: Die Kosten für Schutz- und Kriminalpolizei stiegen immer höher und konnten von den Gemeinden bald nicht mehr getragen werden. Sie verlangten von der Staatsregierung Ersatz für die Kosten, die jedoch weigerte sich. Das empfanden viele örtliche Mandatsträger – und nicht nur Sozialdemokraten – als Erpressung. So kam es im April 1971 zu einer hochemotional geführten Debatte mit einem absurden Ergebnis: Obwohl es heftige Einwände gegen die Verstaatlichung gab, stimmte am Ende nur ein FDP-Abgeordneter dagegen.

Walter Renner hatte zu dieser Zeit einen wichtigen Teil seiner Polizeikarriere schon hinter sich: Acht Jahre lang war er Funkstreife gefahren, das war zu dieser Zeit noch etwas Besonderes: Zum einen hatten die Funkstreifler die schicken kurzen Lederjacken (Renner: „Da haben sich Hunderte beworben, nur damit sie diese Jacken bekommen.“), zum anderen gab es in der ganzen Stadt nur 14 Funkstreifenwagen – heute sind jeden Tag bis zu 300 Polizeiautos in der Stadt unterwegs.

Walter Renner zeigt seine Uniform von der Stadtpolizei.Walter Renner zeigt seine Uniform von der Stadtpolizei. (Foto: Robert Haas)

Ihre Aufgabe war, schnell an einem Tat- oder Unfallort aufzutauchen, Spuren und Beweise zu sichern, Personalien aufzunehmen – die Ergebnisse dieser Arbeit erhielten die zuständigen Fachdienststellen, sie erledigten den Rest. Das war eine hoch angesehene Einrichtung, Renner erinnert sich auch deshalb gerne daran. Eigentlich wollte er immer zur Kripo, was aber aus verschiedenen Gründen nicht klappte. So musste er sich, als er noch einfacher Streifenpolizist war, öfter anhören, ob er auch zu „dieser Trachtengruppe von der Schutzpolizei“ gehöre.

Bei der Funkstreife, sagt Renner, hätten sie Anfang der 1960er-Jahre als Erste gemerkt, dass sich am Ansehen der Polizei in der Bevölkerung etwas änderte: „Früher gab’s gegen das Wort eines Polizisten keine Widerrede. Jetzt fragten vor allem die jungen Leute nach den Gründen und ob wir das überhaupt dürften.“

Eine Sorge der Münchner Stadtpolizisten erfüllte sich nicht

Den Höhepunkt dieser neuen Aufmüpfigkeit erlebte Renner einige Jahre später. Er war mit seinem Partner zur Universität gerufen worden. Dort hatte eine Band gespielt, das Konzert war zu Ende – allein, das Publikum wollte die Musiker nicht gehen lassen. Renner gelang es zwar, sie zu seinem Auto zu führen. Dort allerdings stellte er fest, dass an zwei Reifen die Luft herausgelassen war. Und als er trotzdem losfahren wollte, hoben die Studenten das Auto an der Stoßstange hoch. Erst als andere Funkstreifenwagen eintrafen, konnte die Situation bereinigt werden.

Das wohl einschneidendste Erlebnis seiner Polizeikarriere hatte Walter Renner wohl im Jahr 1972 beim Attentat auf die israelische Delegation bei den Olympischen Spielen. Er führte damals einen Zug der Einsatzhundertschaft und sollte den Bus mit den Terroristen und den Geiseln zu den Hubschraubern lotsen, die sie zum Flughafen Fürstenfeldbruck bringen sollten. Zunächst dachten sie, damit wäre ihr Einsatz erledigt – bis sie den Befehl erhielten, doch nach Fürstenfeldbruck zu kommen. Dort war die Katastrophe schon geschehen: alle neun israelischen Geiseln tot, ebenso ein Polizist und fünf der acht Geiselnehmer. Renner sollte mit seinen Leuten die drei verbliebenen suchen und es gelang ihm, einen der drei festzunehmen.

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Im Rückblick sind sich alle Experten einig, dass die eingesetzten Polizisten weder über die Ausrüstung noch die Ausbildung verfügten, mit einem solchen Krisenszenario umzugehen – ein weiteres Argument für die Verstaatlichung, die dann tatsächlich 1975 vollzogen wurde. Christian Ude findet das bis heute richtig, mit einem kleinen Wermutstropfen: Nach der Verstaatlichung traten massenweise Münchner Polizisten aus der SPD aus, für die sie zuvor in sogenannten Betriebsgruppen organisiert waren, die durchaus etwas zu sagen hatten. „Da siegte wohl doch die Zweckmäßigkeit über die Loyalität“, sagt Ude.

Eine Sorge der Münchner Stadtpolizisten erfüllte sich nicht: Als bayerische Polizisten plötzlich nach Viechtach oder sonst wohin versetzt zu werden. Das hatte der damalige bayerische Innenminister Bruno Merk (CSU) gleich ausgeschlossen: München brauche die Beamten. Heute geht der Trend eher in die entgegengesetzte Richtung – jeder angehende Polizist muss zwei Jahre, in München, Augsburg oder Nürnberg Dienst tun, um die Arbeit in einer Großstadt kennenzulernen. Erst dann kann er sich heimatnah versetzen lassen, um etwa dem teuren Münchner Wohnungsmarkt zu entkommen.

Ansonsten aber, meint Ude, „denkt doch heute keiner mehr dran, die Polizei zu kommunalisieren“. Das hat natürlich auch mit steigenden Zahlen bei den Straftaten zu tun, aber auch mit der Organisation der Täter: Früher hatte die Polizei in, zum Beispiel, München und Rosenheim, nicht einmal eine gemeinsame Telefonnummer. Die Kämmerer der Städte freut’s ebenfalls: Die Verstaatlichung 1975 brachte München allein im ersten Jahr eine Ersparnis von mehr als 100 Millionen D-Mark. Damals nahmen sich rund 4000 Polizeibedienstete der Sicherheit der Bevölkerung an, heute sind es 6450, davon 5370 Polizeibeamte.

Auch die von Wilhelm Hoegner befürchtete undemokratische Macht, die einer staatlichen Polizei zuwachsen könnte, trat nicht ein: Bis jetzt funktioniert – bis auf Ausnahmen – die Kontrolle der Polizei durch Parlament, vor allem Opposition, durch Justiz und auch durch die Presse sehr gut.

Und Walter Renner? Sagt heute, nach 50 Jahren: „Ich hab’ mir damals überlegt: Kann ich was dran ändern? Kann ich nicht. Also soll’s mir recht sein.“