Unter Wiesen, in Wäldern und Flüssen schlummert unbekanntes Leben. Forscher starten die größte Inventur der Biodiversität in Deutschland.

Deutschland kennt seine eigene Natur kaum. Selbst in Wäldern, Böden und Gärten leben unzählige Lebewesen, die bislang niemand beschrieben hat – von winzigen Pilzen bis zu Insekten, die noch keinen Namen tragen. Wissenschaftler wollen das jetzt ändern. Mit der bislang umfassendsten Untersuchung der heimischen Artenvielfalt soll sichtbar werden, was in der Erde, in Flüssen und auf Wiesen bislang verborgen blieb.

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Die sogenannte Inventur der Biodiversität ist Teil der Initiative „Unbekanntes Deutschland“, die von mehreren Forschungseinrichtungen ins Leben gerufen wurde – darunter die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, das Museum für Naturkunde Berlin und die Zoologische Staatssammlung München. Grundlage ist die in Nature Communications Biology veröffentlichte Studie. Ziel ist es, die biologische Vielfalt Deutschlands vollständig zu erfassen, zu verstehen und besser zu schützen.

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Deutschland kennt nur einen Bruchteil seiner Arten

Die Zahlen sind ernüchternd. Zwar gelten hierzulande rund 48.000 Tierarten, 9.500 Pflanzen und 16.000 Pilze als bekannt. Doch das ist nur ein Bruchteil der tatsächlichen Vielfalt. „Wenn man das Verhältnis von Pilzen zu Pflanzen berücksichtigt, wie es in gemäßigten Regionen üblich ist, müsste Deutschland rund 48.000 Pilzarten beherbergen“, erklärt Dr. Ricarda Lehmitz vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz. „Etwa zwei Drittel davon sind vermutlich noch unbeschrieben.“

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Damit steht Deutschland beispielhaft für ein weltweites Problem: Die Menschheit kennt bisher nur einen kleinen Teil des Lebens auf der Erde. Der Rest existiert im Verborgenen – und geht möglicherweise verloren, bevor er überhaupt entdeckt wurde.

Forscher wollen wissen, was in Deutschlands Böden lebt

Die Initiative bündelt Wissen aus Museen, Instituten und naturkundlichen Sammlungen, um diese Lücken zu schließen. Über 147 Millionen Exponate lagern in deutschen Sammlungen – ein Schatz, der bislang nur zu einem Bruchteil digitalisiert ist. Mit neuen Technologien wollen die Forscher diese Daten sichtbar machen und mit aktuellen Funden verknüpfen.

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Im Mittelpunkt stehen dabei Tiergruppen und Lebensräume, über die bisher kaum etwas bekannt ist:

  • winzige Bodentiere wie Springschwänze, Milben und Fadenwürmer
  • Pilze, Bakterien und Mikroorganismen in Böden und Gewässern
  • Insektenarten, die sich äußerlich kaum unterscheiden, genetisch aber eigenständig sind

Lehmitz spricht von sogenannten „kryptischen Arten“. Sie sehen gleich aus, sind aber genetisch verschieden – eine Herausforderung für die klassische Artenbestimmung.

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Warum eine Inventur der Biodiversität nicht nur für Deutschland wichtig ist

Die Forscher warnen, dass das Artensterben schneller voranschreitet, als neue Arten überhaupt entdeckt werden können. Weltweit gehen jedes Jahr zehntausende Arten verloren. Auch in Deutschland sind viele Lebensräume unter Druck. Nach Angaben der Europäischen Umweltagentur befinden sich rund 60 Prozent der heimischen Lebensraumtypen in einem schlechten Erhaltungszustand.

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Prof. Klement Tockner, Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft, sieht die Initiative daher als dringende Aufgabe: „Die Entdeckung und Beschreibung der bislang unbekannten Vielfalt ist eine enorme, aber notwendige Herausforderung, wenn wir den Verlust biologischer Vielfalt aufhalten wollen.“

Hightech hilft bei der Artensuche

Um das Projekt in absehbarer Zeit umzusetzen, setzen die Wissenschaftler auf neueste Technologien:

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  • Hochdurchsatz-Sequenzierung ermöglicht, DNA-Spuren aus Bodenproben oder Insektenfallen zu analysieren.
  • Künstliche Intelligenz hilft, Arten auf Bildern automatisch zu erkennen.
  • Automatisierte Mikroskope sortieren Proben und erstellen hochauflösende Aufnahmen.

Diese Methoden verkürzen den Prozess, der früher Jahrzehnte gedauert hätte, auf wenige Jahre. Zudem fließen historische Daten aus naturkundlichen Sammlungen ein, um Veränderungen im Laufe der Zeit nachvollziehen zu können.

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Bürgerinnen und Bürger werden Teil des Projekts

Ein besonderer Aspekt der Initiative ist die Einbindung von Bürgerwissenschaftlern. Über Plattformen wie iNaturalist oder Flora Incognita können Naturinteressierte Fotos und Beobachtungen hochladen, die dann von Expertinnen und Experten überprüft werden.

Prof. Bernhard Misof vom Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels erklärt: „Deutschland verfügt über ein enormes naturkundliches Wissen. Wenn wir moderne Technologien, Fachwissen und die Beteiligung der Öffentlichkeit kombinieren, können wir in kurzer Zeit erstaunlich viel über unsere eigene Natur lernen.“

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Solche Kooperationen haben bereits gezeigt, wie effektiv sie sein können. In den vergangenen 20 Jahren stieg etwa die Zahl der bekannten Süßwasser-Kieselalgen in Deutschland um 46 Prozent – ein Erfolg intensiver Feldarbeit und verbesserter Analysetechniken.

Wissen, das über Deutschland hinaus wirkt

Die Erkenntnisse sollen nicht nur in Deutschland, sondern auch international nutzbar sein. Denn viele Arten machen an Landesgrenzen nicht halt. Ein besseres Verständnis von Verbreitung und Funktion der Arten kann helfen, Schutzgebiete gezielter zu planen und Landwirtschaft oder Forstwirtschaft nachhaltiger zu gestalten.

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Außerdem könnten Mikroorganismen oder Pilze in Zukunft für medizinische Zwecke, Biokunststoffe oder neue Materialien genutzt werden. Auch für Klimaschutz und Bodengesundheit sind die entdeckten Arten von Bedeutung – viele speichern Kohlenstoff oder beeinflussen den Nährstoffkreislauf.