Am Ende könnte der Stuttgarter Sparhaushalt sogar verhindern, dass Franziska K. ihre lang ersehnte Epi-Watch bekommt. Seit zwei Jahren schon bemühen sich Berater Oliver Reinl und die 32-Jährige im bürokratischen Dschungel zwischen Ärzten, Hersteller und Medizinischem Dienst um das mobile Gerät. Franziska K. lebt allein. Die Epi-Watch würde bei ihren Kontakten Alarm schlagen, wenn Franziska K., die Epilepsie hat, einen Anfall bekommt.

Aber nun ist nicht klar, ob das Duo dieses Herzensprojekt abschließen kann. Im Entwurf des Doppelhaushalts 2026/27 der Stadt ist die Streichung von 50 Prozent der städtischen Gelder für den Verein „Aktive Behinderte Stuttgart – Zentrum selbstbestimmt Leben“ (ZSL) vorgesehen. Dessen Anlaufstelle im Stuttgarter Westen, in der Menschen mit Beeinträchtigungen wie Franziska K. im Alltag geholfen wird, könnte dann nur noch zwei statt bislang vier Berater beschäftigen. „Ohne Oliver Reinl wäre ich aufgeschmissen“, sagt die junge Frau.

Das ZSL, dessen Ursprünge 40 Jahre zurück liegen, ist nur eines von vielen Beispielen an Einrichtungen, Organisationen und Projekten, die von den Kürzungen betroffen sind. Weil die Gewerbesteuer massiv eingebrochen ist (von 1,3 Milliarden 2024 auf voraussichtlich 750 Millionen 2025), steht Stuttgart vor dem größten Sparhaushalt seit der Finanzkrise 2009. Allein 243 Millionen umfassen die Einsparvorschläge der städtischen Ämter für die kommenden zwei Jahre, gut 260 bedrohte Posten stehen auf der Liste – bislang. Denn noch fehlen weitere 300 Millionen Euro pro Jahr im Haushalt. Weitere Streichlisten werden also wahrscheinlich in den kommenden Wochen nachgereicht. Beschlossen werden soll der Haushalt am 19. Dezember.

Amt für Soziales in Stuttgart will 27,5 Millionen Euro sparen

Das Amt für Soziales und Teilhabe, von dem das ZSL abhängig ist, will bislang 27,5 Millionen Euro streichen. Betroffen sind Einrichtungen der Sucht-, Senioren- und Geflüchtetenhilfe ebenso wie für Menschen, die von Armut oder Behinderung betroffen sind. Manche Gemeinderätinnen und -räte sprechen deshalb von einer „Liste des Grauens“.

Die Liga der Wohlfahrtspflege Stuttgart hat die Kürzungen im sozialen Bereich in einem Brief an die Räte als zu pauschal kritisiert. Man verstehe, dass die Stadt sparen müsse, rege aber eine „sorgfältige Aufgabenkritik“ an, bevor entschieden wird, wo wie viel gekürzt werden soll. Anders gesagt: Die Stadt soll erst einmal prüfen, welche Angebote unerlässlich sind, bevor sie den Rotstift ansetzt.

Auch Oliver Reinl, der dem ZSL-Vorstand angehört, versteht als studierter Diplom-Ökonom den Spardruck der Stadt, findet aber, dass das ZSL unverhältnismäßig stark betroffen ist. Nach den Plänen der Verwaltung fielen für den Verein 156.000 Euro weg – und damit Geld für Heiz- und Mietkosten sowie eine von bislang zwei städtisch finanzierten Vollzeitstellen. Eine weitere Stelle bezahlt derzeit das Bundesarbeitsministerium, aber auch hier ist unklar, wie lange die Gelder dafür noch fließen.

Remy Dreiß, Franziska K. und Oliver Reinl (von links) machen sich Sorgen um die Zukunft des ZSL. Foto: Ferdinando Iannone

Oliver Reinl schläft deshalb seit ein paar Wochen schlecht. Er hat im Namen des Vereins einen langen Brief an die Stadträte geschickt, in dem er beschreibt, was sie mit den Geldern bislang alles leisten. So helfen die vier Berater, die alle selbst eine Beeinträchtigung oder chronische Krankheit haben, ihren Klienten etwa bei der Job- und Wohnungssuche oder bei Anträgen für Pflegegrade, Sozialhilfe, Hilfsmittel wie Rollstühle oder Prothesen. Rund 20 Ratsuchende pro Woche betreuten die vier.

Alleinstellungsmerkmal sei, dass die kostenlosen Angebote Menschen mit jeder Form von Beeinträchtigung körperlicher oder geistiger Natur offen stünden, sagt Oliver Reindl. Andere Beratungsstellen konzentrierten sich meist auf einen bestimmten Klienten-Kreis. Deshalb könnten diese ein verringertes Angebot beim ZSL nicht einfach kompensieren. Außerdem helfe sein Verein der Stadt, die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umzusetzen, ihre Pflicht, Inklusion zu fördern. Etwa mit Informationsveranstaltungen, Podcasts oder der Beratung von Arbeitgebern.

Job Speed Dating und Teilnahme an Touristikmesse CMT in Stuttgart

Besonders stolz ist man beim ZSL auf die jährliche Teilnahme an der Reisemesse CMT, wo der Verein über barrierefreie Reise- und Kulturangebote informiert, und mit dem „Goldenen Rollstuhl“ einen Preis für solche Formate verleiht. Ebenso wie auf das Format „Job Speed Dating“, das Klienten in Stellen auf dem regulären Arbeitsmarkt vermitteln will.

Auch Remy Dreiß hat es mit der Hilfe seines Beraters Andreas Lapp-Zens, vielen Mails, Telefonaten und Treffen, in eine reguläre Stelle beim Regierungspräsidium geschafft. Der 31-Jährige hat nur 25 Prozent Sehvermögen und ist Spastiker. Nach einer Ausbildung als Hilfskraft für Büro und Verwaltung in einer Einrichtung für Sehbehinderte, fand er jahrelang keine passende Stelle.

Mit Andreas Lapp-Zens schrieb er seinen Lebenslauf neu, trainierte Bewerbungsgespräche – fand überhaupt erstmals heraus, was für ihn ein adäquater Job sein könnte. „Ich hatte im Leben die Wahl, liegen zu bleiben oder aufzustehen“, sagt Remy Dreiß. Das ZSL habe ihm beim Aufstehen geholfen. „Ich habe für mich beruflich rausgeholt, was möglich war“, sagt Remy Dreiß.

Das sieht auch Franziska K. so, die in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeitet. Vor zwei Jahren kam sie zum ersten Mal ins ZSL. Damals wurde ihrer Mutter die Betreuung zu viel, sie suchte Unterstützung in ihrem selbstständigen Leben ohne gesetzlichen Betreuer. Seither hilft Oliver Reinl mit Anträgen auf Sozialhilfe oder Fahrkarten oder wenn seine Klientin die Werkstatt wechseln will. Und mit der Epi-Watch natürlich. Sie würde Franziska K.s Freiheit noch sicherer machen.

Protest gegen Kürzungen

Inklusion
Auf den Kürzungslisten der Ämter sind zahlreiche Projekte und Einrichtungen zum Thema Inklusion zu finden, so unter anderem die inklusiven Spielstraßen (gut 25.000 Euro in zwei Jahren sollen gespart werden), eine Studie zu Inklusion (20.000 Euro), das Förderprogramm Stuttgart für alle inklusiv (65.000 Euro), die Begegnungsstätte Treffpunkt der Caritas (minus 65.000 Euro), der Anna-Haag-Haus-Cafébetrieb (minus 50.000), die Begegnungsstelle für Gehörlose (minus 45.000 Euro).

Kritik
Vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Stuttgart und Region kommt Kritik an den Kürzungen beim ZSL. Diese seien „unverhältnismäßig und würden wohl das Ende der Organisation bedeuten“, sagt der Regionalleiter Peter Heydegger. Gerade kleinere Organisationen wie das ZSL arbeiteten mit einer Mischung aus Haupt- und Ehrenamtlern sehr effektiv. „Dieses Engagement darf nicht zerschlagen werden.“

Anträge
Drei Gemeinderatsfraktionen haben Anträge zum Haushalt eingebracht, die die Zuschüsse für das ZSL erhalten sollen: SPD/Volt- (9 Sitze) sowie die Grünen-Fraktion (14 Sitze) fordern darin jeweils eine halbe Stelle mit 48.000 Euro jährlich weiter zu finanzieren. Die Plus-Gruppe (3 Sitze) will dem ZSL 166.000 Euro jährlich zugestehen. Damit diese Anträge durchgehen, müssten sie allerdings am 19. Dezember Stimmen aus anderen Fraktionen erhalten.