Das hätte sich auch Ernestine Friederike Elisabeth Mahler nicht träumen lassen, dass sich einmal zwei Leipziger Autorinnen hinsetzen würden und unter dem Pseudonym Clara Bachmann einen Roman über sie schreiben würden. Wo sie doch als Hedwig Courths-Mahler selbst über 200 Romane und Novellen geschrieben hat, die bis heute immer wieder aufgelegt werden und ihr Publikum finden. Denn sie erzählte in ihren Romanen immer wieder neu den Traum, den Millionen Frauen (und Männer) auch heute noch träumen: den Traum von einem guten Ende.
Das ist nicht trivial, auch wenn Literaturkritiker auch heute noch von Trivialliteratur schwadronieren, weil sie nicht einmal verstehen, warum Menschen eigentlich Bücher lesen und sich auf Fantasiewelten einlassen. Auf Geschichten, in denen kleine Leute wie sie selbst nach schweren Schicksalsschlägen doch noch ihr Glück finden. Wenigstens so ein kleines bisschen Glück, bei dem man das Gefühl hat: Jetzt wird tatsächlich noch alles gut.
Nicht zu vergessen: Sie war ein Leipziger Kind, wuchs hier als Tochter einer alleinerziehenden Mutter auf, erlebte also die Armut pur, die damals auch tausende andere Leipziger Kinder erlebten, konnte die Schule nur kurz besuchen und verdingte sich schon früh als Hausmädchen, um aus den ärmlichen Verhältnissen herauszukommen. Sie wusste, wie man verzichten und die Zähne zusammenbeißen musste, wenn man von ganz unten wenigstens in Verhältnisse kommen wollte, die man so landläufig als bürgerlich bezeichnet.
Ganz unten
Und das Erstaunliche daran ist: Das ist immer noch eine höchst gegenwärtige Geschichte. Aber das weiß nur, wer – wie Ernestine Friederike Elisabeth, die sich selbst den mutmachenden Namen Hedwig zulegte – ganz unten aufgewachsen ist, in der heutigen Dienstboten-, Handlanger- und Bürgergeldklasse, auf der die verpeilten Millionäre mit arroganter Miene herumtrampeln und nicht einmal verstehen, wie es sich wirklich lebt, wenn man nichts hat.
Und wenn auch die Jobs, die man bekommen kann, einen nicht reich machen und schon gar keine Sicherheit schaffen. Und man gezwungen ist, auch noch die miserabelsten Bedingungen bei der Jobsuche anzunehmen, wenn man nicht immer wieder als Bettler beim Jobcenter stehen will.
Und den beiden Autorinnen, die sich als Clara Bachmann zusammengetan haben, ist es gelungen, nicht nur die Zeit der jungen Hedwig Mahler mit lebendigen Farben zu zeichnen. Sie wissen auch dieses Gefühl des permanenten Es-reicht-nicht lebendig werden zu lassen. Im Leipzig jener so gern als Gründerzeit bezeichneten Jahre, in der die Stadt wuchs, der Reichtum aber so extrem verteilt war, dass Kinder aus der Unterklasse wie Hedwig das Gefühl des Nicht-Dazugehörens und Nie-Genügens bis auf die Knochen verinnerlicht haben.
Doch sie will sich nicht damit abfinden. Sie will raus aus diesen Verhältnissen, die ihre Mutter zur Prostitution zwingen und die in ärmlichen Zuständen wirtschaftende Hedwig Courths zum Anschreiben und Betteln bei den Händlern in der Umgebung zwingen. Woran nicht nur die Lust ihres Mannes, des Dekorationsmalers Fritz Courths, an immer neuen stolzen Hutkäufen schuld war, sondern auch die dessen schlechte Bezahlung und sein konservative Verständnis von der Frau, die bitteschön nicht zu arbeiten habe, wenn der Mann das Geld nach Hause bringt. Nur bedeutete das für den kleinen Courths-Haushalt jahrelange Armut, auch in Halle, wo Fritz glaubte, endlich Tritt fassen zu können.
Gegen alle Widerstände
Auf einen wirklich grünen Zweig kamen die Courths erst nach ihrem Umzug nach Chemnitz, der Stadt, die heute als der Ort gilt, wo Hedwig tatsächlich endlich als Autorin durchstartete. Das Schreiben hatte sie schon von Kindheit an begleitet. Doch auch Fritz wollte nicht, dass sie damit an die Öffentlichkeit ging.
Es mussten erst Jahre der Armut, mehrere Umzüge und der Kampf um ein bisschen Stabilität folgen, bevor Hedwig – auch mit Hilfe des Chemnitzer Redakteurs Paul Hermann Hartwig – zu ihren ersten wichtigen Veröffentlichungen kam.
Es ist eben auch die Geschichte einer jungen Frau, für die das Schreiben ganz zentraler Inhalt ihres Lebens war, die sich das Schreiben und Veröffentlichen aber auch gegen die Widerstände ihrer Zeit erkämpfen musste. Auch gegen Fritz, der im Grunde die ganz selbstverständlichen konservativen Ansichten seiner Zeit pflegte. Konservative Sichtweisen, die auch Hedwigs Romane durchziehen würden und die ihr gnadenlose Kritiker immer zum Vorwurf gemacht haben.
Es überrascht – und Clara Bachmann thematisieren es auch im Chemnitz-Kapitel – wie alt und nervend diese Diskussionen und Vorwürfe sind, mit denen ein völlig abgehobenes bürgerliches Bildungsbürgertum nicht nur auf die Romane von Courths-Mahler herabsah, sondern auch die konservativen Klischees darin verächtlich machte. Klischees, die in der Literatur zwar wie altbacken und überholt wirken.
Aber die in abgehobenen Sphären lebende Kritiker vergessen bis heute, wie zäh und allgegenwärtig diese Klischees noch immer in weiten Teilen unserer Gesellschaft sind, oft einfach ignoriert von denen, die alles haben und diese Haltung leben, ohne sich ihrer Verachtung für die Kinder aus Downtown überhaupt noch bewusst zu werden.
Unsichtbare Mauern
Denn diese Klassenverachtung ist weiterhin da. Fein verpackt, schön getarnt. Aber aus jeder Bürgergeld-Rede des Bundeskanzlers kommt sie wieder zum Vorschein. Und jedes Mal wird deutlich, dass wir im Grunde fast wieder da sind, wo Hedwig in ihren jungen Jahren war: In einem zwischen Arm und Reich zerrissenen Land, in dem die Aufstiegschancen von ganz unten limitiert sind und Kinder aus diesen Familien immerfort gegen unsichtbare Mauern und Widerstände anrennen, wenn sie versuchen, auch nur ein paar Sprossen auf der Leiter nach oben und in Verhältnisse zu kommen, in denen das Geld mal übers Monatsende hinaus reicht.
Und so betrachtet ist Hedwigs Geschichte im Grunde auch eine Aufsteiger-Geschichte, wie sie sie in ihren vielen Romanen selbst erzählt hat. Romane, die damals wie heute ihr Publikum finden, weil es Geschichten sind, die Hoffnung machen.
Im Grunde Aschenputtel-Geschichten, über die der gehobene Mittelstand so gern die Nase rümpft, weil er nicht mal mehr weiß, wie sich das Leben anfühlt, wenn man über Jahre hinweg keine gesicherten Verhältnisse hat, jede Mieterhöhung zur Katastrophe werden kann und eine Job-Kündigung die ganze Familie in die finanzielle Not stürzt.
Und Clara Bachmann gelingt es sehr farbenreich und lebendig, die prekären Verhältnisse zu schildern, in denen sich Hedwig behaupten muss, bis die kleine Familie endlich Boden unter die Füße bekommt. Wie Hedwig sich die kargen Stunden in der Nacht erkämpfen muss, in denen sie lesen und schreiben kann. Und wie sie letztlich mit dem Mut der Frau, die sich nicht mehr alles gefallen lassen will, ihrem Fritz eine gut dotierte Stellung besorgt und am Ende auch eine Wohnung in Chemnitz, die endlich diesen Namen verdient.
Wer solche zähen und auf langen Kämpfe um den Aufstieg in eine halbwegs gesicherte Existenz durchgemacht hat, der wird sich wiedererkennen in dieser Hedwig Courths, die sich gegen alle Widerstände behauptet und zu ihrem Fritz auch in Zeiten steht, in denen er sich gefühllos und dumm benimmt.
Ein gutes Ende …
Und natürlich setzt Clara Bachmann genau da einen Punkt, an dem die kleine Familie nach Berlin aufbricht, in die Stadt, in der dann tatsächlich der Erfolg der Hedwig Courths-Mahler beginnen sollte. Aber es ist wie mit Hedwigs Geschichte selbst: Die eigentlich atemberaubenden Kapitel, in denen auch das mögliche Scheitern steckt, passieren vorher. Das sind die langen Durststrecken, bis eine Geschichtenerzählerin wie Hedwig tatsächlich die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient, und Anerkennung für das, was sie schreibt.
Trotz oder gerade, weil ihr Schreiben das Muster des seelenzerknirschenden Bildungsromans nicht bedient, sondern die Geschichten erzählt, die all jenen Mut machen, die mit ihren Träumen von einem guten Leben immer wieder an den gläsernen Decken einer Gesellschaft scheitern, in der die Habenden mit gelinder Verachtung auf die Nichtshabenden herabschauen.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Weshalb die Geschichten der Hedwig Courths-Mahler auch in Zukunft noch verlegt, gelesen und verfilmt werden. Und wer diesen Lebensroman aus der Tastatur von Clara Bachmann liest, wird dasselbe Muster eben auch in Hedwigs Leben wiedererkennen, an authentischen Schauplätzen auch in Leipzig.
Man kann sich regelrecht hineinversetzen in die Lebenswelt eines armen Mädchens, das als Dienstmädchen und Verkäuferin den Weg sucht, aus der Not herauszukommen. Und das von ihrer ersten ernsthaften Zuhörerin auch den wichtigen Hinweis bekommt, dass Geschichten ein gutes Ende brauchen, wenn sie den Lesern Mut machen sollen. Das war um 1900 so und ist es auch heute noch.
Und deswegen ist es auch dramaturgisch der richtige Punkt, den Clara Bachmann setzen, wenn sie Hedwig praktisch auf gepackten Koffern nach Berlin sitzen lassen. Denn das ist der Punkt, an dem solche Geschichten enden müssen – mit einem offenen, aber guten Ende. Einem wohlverdienten Ende, muss man hinzufügen, denn wer sich von unten so hochkämpft, der glaubt nicht an Wunder und Fügungen, der vertraut auf seine eigene Kraft und Ausdauer.
Und darauf, dass das einmal im Leben auch wirklich belohnt wird.
Der Traum von Millionen
Das ist der große Traum, den Millionen Menschen träumen. Und den auch Hedwig träumte und lange nicht erfüllen konnte. Deswegen gibt es auch Kapitel, bei denen man mit ihr verzagen möchte, weil es scheinbar nicht aufwärts geht und besser wird. Aber zumindest weiß man: Am Ende schafft sie es. Aus eigener Kraft. Und im Vertrauen darauf, dass man nicht aufgeben darf, sondern manchmal auch mit hocherhobenem Kopf in die Büros der Chefs gehen muss, um zu fordern, was einem zusteht.
Und wie das mit einem guten Ende so ist: Wer es sich erkämpft hat, der ruht sich nicht darauf aus. Weil er weiß, dass die Geschichte weitergeht. Das gute Ende ist der Anfang einer neuen Geschichte, die Clara Bachmann hier freilich nur andeuten. Denn das Allerwichtigste ist das, was vorher geschehen ist.
Und was Hedwig klargemacht hat, wie man Geschichten erzählen muss, damit die Leserinnen und Leser am Ende wieder Hoffnung haben, dass es sich lohnt, sein eigenes Leben am Schopf zu packen.
Clara Bachmann: „Ein gutes Ende“ Bastei Lübbe, Köln 2025, 18 Euro.