Es gebe mehr Dinge, die nicht existieren, als solche, die existieren, sagt Tony Cragg, der international berühmte Bildhauer sowie Gründer und Stifter des Skulpturenparks Waldfrieden. In Skulptur und Kunst sieht er die Möglichkeit, die Dinge zu berühren, die nicht existieren.
Das hört sich zunächst wie ein Paradox an: Wie kann es etwas geben, was nicht existiert? Und wie kann man es berühren? Umso interessanter ist es, Craggs Werke aus nächster Nähe zu betrachten. Möglicherweise lassen sich so Antworten auf diese Fragen finden.
Lässt die Ausstellung etwa in Craggs Kopf hineinblicken?
Im Skulpturenpark Waldfrieden findet vom 20. August 2025 bis 4. Januar 2026 die Ausstellung „Tony Cragg – Line of Thought“ statt. Diese umfasst überwiegend Craggs Arbeiten des letzten Jahrzehnts und erstreckt sich über alle drei Ausstellungshallen. Somit lässt sich das Ausmaß dieser Ausstellung gut vorstellen. Der Titel („Line of Thought“, deutsch: „Gedankengang“) deutet auf einen kreativen Denkprozess hin.
Tony Cragg, „Industrial Nature“, 2020 – Foto: ln
Tony Cragg, „Industrial Nature“, 2023 – Foto: ln
Tony Cragg, „Justine“, 2025 – Foto: ln
Tony Cragg, „Points of View”, 2007 – Foto: ln
„An was erinnert dich das?“ – frage ich meine Begleitung, als wir vor einem Werk aus Edelstahl mit dem Titel „Justine“ (2025) stehen. „An eine tanzende Frau … und irgendwie an eine Blume“, bekomme ich als Antwort. Ich selbst muss an „The Last of Us“ denken und liege dabei womöglich gar nicht so falsch: Auch wenn es sich bei Justine wohl kaum um einen vom parasitären Pilz infizierten Zombie aus dem populären Videospiel und der darauf basierenden Serie handeln dürfte, ist das Ineinandergreifen von Subjekt, Objekt und Natur ein gängiges Motiv in Craggs Werken. Ein gutes Beispiel dafür ist auch die Serie „The Industrial Nature“: Es handelt sich um lebensgroße Aluminiumobjekte, die man auf den ersten Blick jedoch entweder dem Reich der Pflanzen oder dem Reich der Pilze zuordnen könnte. Ähnlich verhält es sich mit Craggs Werk „Points of View“ (2007), das zu der Dauerausstellung gehört. In den drei etwa zwölf Meter hohen säulenartigen Gebilden sieht manch einer etwas Pflanzenartiges und manch einer … die Kurbelwellen. Aus einem bestimmten Blickwinkel lassen sich dort sogar deutlich menschliche Züge erkennen. Eine Ansichtssache in der Tat.
Tony Cragg, „Lost in Thought”, 2019 – Foto: ln
Tony Cragg, „Lost in Thought”, 2012 – Foto: ln
Aus bestimmten Blickwinkeln lassen sich bekannte Formen erkennen, die sich dann wieder auflösen
Craggs Skulpturen stellen demnach keine konkreten Konstrukte dar, sondern veranschaulichen einen Entfaltungsprozess. Man kann sie tatsächlich mit einem Denkprozess vergleichen, bei dem aus einer abstrakten Idee eine neue Form hervorgeht. Hin und wieder nehmen diese gedanklichen Gebilde erkennbare Gestalten an, die sich jedoch bald wieder in einem weiteren Einfall auflösen. Schließlich kann man sich in dieser Gedankenwelt verlieren. Wie dieser Prozess aus Craggs Sicht aussieht, zeigt die Serie „Lost in Thought“ (2012, 2019). Lebensgroße Holzskulpturen wirken auf den ersten Blick geschlossen und monumental. Schaut man jedoch in diese Skulpturen hinein, so läuft man Gefahr, sich in einem Labyrinth der Formen zu verlieren.
Tony Cragg, eine Kleinplastik aus Murano-Glas von verschiedenen Seiten betrachtet – Foto: ln
Cragg experimentiert aber nicht nur mit Ideen und Formen: Seine Kleinplastiken aus Murano-Glas bieten ein wunderbares Spiel aus Licht, Schatten und bei einigen Werken auch Farbe. Auch hier lassen sich aus bestimmten Blickwinkeln bekannte Formen erkennen, die sich aus einer anderen Perspektive dann wieder auflösen.
Tony Cragg, Zeichnungen – Foto: ln
Die Ausstellung bietet außerdem die einzigartige Möglichkeit, Tony Cragg auch als bildenden Künstler kennenzulernen: In der gleichen Halle wie die Murano-Plastiken werden Craggs Zeichnungen präsentiert, die einen tieferen Einblick in die kreative und intellektuelle Auseinandersetzung des Künstlers mit seiner objektiven und subjektiven Umgebung bieten.
- Was können die Dinge sein, die nicht existieren?
- Sind es etwa die Gedanken und Ideen, die aus der Erforschung des bereits Bekannten entstehen?
- Oder sind es die einzelnen Phasen eines Entstehungsprozesses, die von den nächsten Phasen abgelöst werden und somit aufhören zu existieren?
Tony Cragg, „Congregation“, 1999 – Foto: ln
Was macht den Skulpturenpark nun so interessant?
Möglicherweise sind es auch altbekannte Konzepte, die aber durch Kunst verfremdet werden. So wie etwa Craggs Installation „Congregation“ (1999), die aus Boot, Rudern und kleinen Rettungsbooten besteht; alles, wie es sich gehört, aus Holz, aber auch vollständig mit Metallhaken bedeckt und daher unbrauchbar.
Thomas Virnich, „Helter“, 2015 – Foto: ln
Jaume Plensa, „Mariana W.´s World”, 2012 – Foto: ln
Ähnliche Motive finden sich in der Dauerausstellung des Skulpturenparks Waldfrieden: Das auf dem Kopf stehende Haus von Thomas Virnich („Helter“, 2015) sowie das fast außerirdisch wirkende Gesicht von Jaume Plensas Mariana („Mariana W.´s World“, 2012) sind nur zwei Beispiele dafür. Die Fähigkeit der Kunst, sich mit den Dingen zu befassen, die über die uns bekannte Realität hinausgehen, scheint somit das Leitmotiv nicht nur von Craggs Werken, sondern auch das des Skulpturenparks insgesamt zu sein. Aber ist es nicht genau das, was den Skulpturenpark Waldfrieden so interessant macht? »ln«
Skulpturenpark Waldfrieden