Cover: Helga Schubert, "Luft zum Leben"

AUDIO: Neue Bücher: „Luft zum Leben“ von Helga Schubert (4 Min)

Stand: 13.11.2025 06:00 Uhr

Mit 80 Jahren gewann Helga Schubert 2020 den Bachmannpreis und fegte mit ihrer Erzählung „Vom Aufstehen“ alle weg. Plötzlich war sie eine Erfolgsautorin. Nun erscheint ein neuer Band mit Erzählungen.

von Lenore Lötsch

Der Frühstückstisch, der in der deutschen Gegenwartsliteratur am sinnlichsten beschrieben wurde, steht im mecklenburgischen Neu Meteln im Wintergarten der Autorin Helga Schubert. Die Leserinnen und Schubert-Fans kennen sich da aus, riechen das Quittengelee, das getoastete Schwarzbrot, die schmelzende Butter. Ein kleines weiteres Detail kommt nun dazu.

Ich lege die Kachel bei jeder Mahlzeit neben den Teller meines Mannes. Und er nimmt sie bei jeder Mahlzeit hoch, betrachtet sie, liest langsam die beiden, einzeln ja sinnlosen, Silben: T A U und V E R S I C H T. Dann sieht er mich fragend an.
Ich antworte dreimal am Tag: „Das ist Plattdeutsch. Das soll Zuversicht heißen.“ (…) Mir hat der Pastor zum Geburtstag auch eine solche Kachel geschenkt. Auf der stehen nur drei Buchstaben: M U T.

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Es ist, als sei das Schuberts Mission auch für das neue Buch: Zuversicht vermitteln, indem sie mit Mut vom eigenen Leben erzählt: Als ungewolltes Kind, als unbotmäßige Bürgerin eines Staates, in dem sie nicht sein will, und als verratene Autorin. Ihr großer Wunsch: Es soll ein Buch sein, das dem Leben auf den Grund geht und unerwartete Übergänge zeigt, Notausgänge andeutet für die Jungen, aber auch für die Alten.

Eine Tasse Kaffee, ein Kuchen und ein Buch sind nebeneinander arrangiert.

Bestsellerautorin Helga Schubert ist zu Gast und schwärmt vom frühen Leseglück und einem russischen Kutscher.

Zeitlose Erzählung über die Zerrissenheit von Müttern

37 Texte aus 65 Schreibjahren sind es, die die Autorin thematisch geordnet hat. Den eifrigen Schubert-Leserinnen kommen viele Themen bekannt vor. Nicht alle Geschichten sind literarisch ausgefeilt, mitunter beruhen sie auch auf Vorträgen, beispielsweise über Schwangerschaftsabbrüche. Und manche Erzählungen sind so eng an die DDR gekoppelt, dass heutige Leserinnen nichts mehr damit anfangen können. Aber wenn sie über die Zerrissenheit von Müttern schreibt und über den Druck, dem Bild einer liebenden Mutter zu entsprechen, dann ist das zeitlos:

Ich musste immer an Brot denken, an Butter, an Milch, an Schularbeiten, Elternversammlung. Ich habe so viele Essen gekocht und so viele Pullover gewaschen (…). Und ich habe so viel geschimpft und um Ruhe gebeten und um Nachgiebigkeit und Rücksicht. (…), war enttäuscht und entmutigt und hab es so zärtlich geliebt, wenn es im Bett lag und schlief. Und ich habe mich geschämt, weil ich keine sanfte Mutter war, keine streichelnde zärtliche, weiche. Aber dies Kind war wie mein Arm. Den streichle ich auch nicht, den hab ich.

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Schmerzlicher Bruch mit Christa Wolf

Die erstaunlichste Erzählung ist aus dem Jahr 1989 und berichtet von Helga Schuberts größter Kränkung, allerdings ohne Namen zu nennen. Christa Wolf hatte in ihrer Erzählung „Sommerstück“ im Jahr 1989 mehr oder weniger gut erkennbar Mitglieder der Künstlerkolonie Drispeth bei Schwerin beschrieben. Zu der gehörten auch Helga Schubert und ihr Mann.

Und wenn es der Porträtierenden nicht gelingt, das Porträt in die Waage zu bekommen? Genau in die Waage? Also mit möglichst verschiedenen Charakterzügen, neben der Lebhaftigkeit und dem nervenden Mitteilungsbedürfnis, der Eifersucht auch irgendetwas Liebenswürdiges? Nur als Beispiel, dann fühlt sich die Porträtierte diffamiert und zur Schau gestellt.

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Mehr noch, sie fühlt sich enthauptet. Eigentlich wollte Helga Schubert nichts mehr sagen zum tiefen Riss zwischen den beiden ehemals befreundeten Autorinnen. Dass sie jetzt diese Erzählung veröffentlicht, heißt auch: Es ist ihr wichtig, dass sie den Schlusspunkt setzt.

Helga Schubert

Schubert hat 2024 das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Ein Besuch bei der Schriftstellerin in Neu Meteln bei Schwerin.

Schuberts Sehnsucht nach ihrer Heimat

In diesem Jahr ist Helga Schuberts Mann gestorben; sie hat ihn bis zum Ende zu Hause gepflegt, wie sie es ihm versprochen hatte. Wer die Erzählungen aufmerksam liest, ahnt, dass sie nun noch einmal mehr gedanklich die Koffer packt. Gegen die Sehnsucht nach ihrer großen, alten, lauten, geliebten Heimatstadt Berlin hilft nur, dass sie den WhatsApp-Status der Berliner Polizei abonniert hat. Und der Blick in Immobilienanzeigen.

Nach der Lektüre dieser Erzählungen wünscht man Helga Schubert vor allem Zeit. Und noch mehr Mut. Für Geschichten aus dem Heute.

Cover: Helga Schubert, "Luft zum Leben"

Luft zum Leben

von Helga  Schubert

Seitenzahl:
286 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
dtv
ISBN:
978-3-423-28513-1
Preis:
24 €

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Romane