TLVGMannheim | 15. November 2025

Die Kunsthalle Mannheim hat 1925 mit der Ausstellung «Die Neue Sachlichkeit» ein Kapitel der Kunstgeschichte geschrieben, das heute als Wendepunkt zwischen Idealismus und Wirklichkeit gilt. Noch bis Ende des Jahres ist eine Hommage an jene Jahre in Mannheim zu sehen.

Die Ausstellung «Die Neue Sachlichkeit – ein Jahrhundertjubiläum» ist noch bis Ende Jahr zu sehen.

Die Ausstellung «Die Neue Sachlichkeit – ein Jahrhundertjubiläum» ist noch bis Ende Jahr zu sehen.Foto: Heiko Daniels

Die 1920er-Jahre gelten als eine der widersprüchlichsten Perioden des letzten Jahrhunderts – pulsierend und düster zugleich. Nach dem Grauen des Ersten Weltkriegs suchte man nach Halt. In der Kunst äusserte sich diese Sehnsucht in einer Abkehr vom theatralischen Ausdruck des Expressionismus. Das konkret Sichtbare rückte ins Zentrum des Kunstschaffens.

Mannheim wurde wohl unerwartet zum Ursprung dieser künstlerischen Neuorientierung. Denn Gustav F. Hartlaub, damals Direktor der Kunsthalle Mannheim, hatte den Mut und die Intuition, die Zeichen der Zeit in eine Ausstellung zu fassen: «Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus.» Was er im Museum zeigte, war keine homogene Bewegung, sondern eine Vielzahl realistischer Ausdrucksformen, die sich der Wiederannäherung an eine neue Realität verschrieben hatten.

Die Kunsthalle Mannheim: Immer eine Reise wert.

Die Kunsthalle Mannheim: Immer eine Reise wert.Fotos: Kunsthalle Mannheim

Entschlackung, Ernsthaftigkeit und ein fast dokumentarischer Blick auf das Leben zeichnete diese Neuorientierung aus. Die Gegenreaktion auf die Überschwänglichkeit des Expressionismus zeigte, was war, oft schonungslos, manchmal sarkastisch, aber nie beschönigend. Die Neue Sachlichkeit nahm die Menschen ernst, als verwundete Kriegsheimkehrer, als isolierte Städter, als Marionetten des Marktes oder Opfer ihrer eigenen Sehnsüchte. Kein Wunder, dass diese Bildwelt mit der zunehmenden Polarisierung in den 1930er-Jahren als unbequem galt – sie spiegelte zu deutlich wider, was viele lieber verdrängten. In einer Gesellschaft, die sich wirtschaftlich und politisch neu formierte, verstand sich diese Kunstrichtung als kritisches Korrektiv.

Die scheinbare Nüchternheit war ein Ausdruck der Übernahme von Verantwortung. Zu den 1925 in der Kunsthalle Mannheim gezeigten Künstlern gehörten Otto Dix, George Grosz, Max Beckmann, Rudolf Schlichter und Karl Hubbuch – Namen, die heute Synonyme sind für den kritischen Blick auf die Weimarer Gesellschaft. Sie zeigten nicht das Erhabene, sondern das Abgründige. Ihre Bilder wurden zu Spiegeln einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft. Sie dokumentierten Verwahrlosung, Verlogenheit und das allgegenwärtige Elend.

Georg Schrimpf, «Lesende am Fenster», 1925/26, Ölfarbe auf textilem Bildträger (58 x 47 cm).

Georg Schrimpf, «Lesende am Fenster», 1925/26, Ölfarbe auf textilem Bildträger (58 x 47 cm).

Erkannt und aufgeteilt

Das Verdienst der Kunsthalle Mannheim lag nicht nur im Erkennen einer neuen Richtung, sondern zudem in der Differenzierung der verschiedenen Strömungen, die sie beinhalte. 1925 sprach der Direktor von einem linken und einem rechten Flügel der Neuen Sachlichkeit. Auf der einen Seite die sozialkritischen Chronisten des Alltags, auf der anderen Seite die Verfechter eines zeitlosen Realismus, der sich an klassischen Vorbildern orientierte.

Während Otto Dix mit geradezu chirurgischer Präzision den körperlichen und moralischen Zerfall der Nachkriegsgesellschaft festhielt, zeigten Maler wie Alexander Kanoldt oder Georg Schrimpf menschenleere Räume, unbewegte Figuren, eine kühle Stille. Diese Ambivalenz stiess oft auf Kritik. Dass diese Bewegung ausgerechnet in Mannheim ihre erste grosse Bühne fand, dürfte aus heutiger Sicht kein reiner Zufall gewesen sein. Die Stadt war damals ein Experimentierfeld für Industrie, Architektur und neue Gesellschaftsformen. Entsprechend gross war 1925 der Erfolg der Ausstellung, sodass sie danach auch in Dresden, Chemnitz und Erfurt gezeigt wurde.

Der Begriff Neue Sachlichkeit wurde zur Chiffre einer künstlerischen Haltung, die auch in der Fotografie, der Literatur und im Film Schule machte. Bis Ende dieses Jahres zeigt die Kunsthalle Mannheim eine umfassende Hommage an die bahnbrechende Ausstellung vor hundert Jahren. In einer Zeit, in der Fakten als dehnbar gelten, in der Bilder manipuliert werden, bekommt die Hinwendung zum Wahren und Wirklichen eine neue Relevanz. Die Neue Sachlichkeit war in ihren Ursprüngen ein Plädoyer für eine achtsame Wahrnehmung. Aber jede Generation steht erneut vor der Aufgabe, die Wirklichkeit ihrer Zeit ins Bild zu setzen und sich dafür stark zu machen.

Ausstellung «Neue Sachlichkeit»: Bis 31. Dezember 2025, www.kuma.art

Neupräsentation im Jugendstilbau

Im Obergeschoss des Jugendstilbaus der Kunsthalle Mannheim wurden die Räume neu gestaltet und kuratiert – auch hier lohnt sich ein Besuch: Interessierte entdecken stimmungsvolle Landschaftsdarstellungen des frühen 19. bis 20. Jahrhunderts von Meistern wie Caspar David Friedrich und Carl Spitzweg, ebenso wie Werke von Max Liebermann und Lovis Corinth, ergänzt durch Gemälde und Skulpturen des Informel, also abstrakte Malerei der Nachkriegszeit sowie eine zeitgenössische Videoarbeit. Zudem wird die Mehrkanal-Videoinstallation «Breker CCTV» von Itamar Gov erstmals als Teil der eigenen Sammlung präsentiert.

Ausstellung: Bis 30. August 2026