30 Gäste aus der ukrainischen Partnerstadt Chmelnyzkyj besuchten Stuttgart, um für den Wiederaufbau zu lernen. Ein emotionaler Bericht über neue Hoffnung im Angesicht von Krieg und Not.
Ein paar Tage Frieden erleben. Ohne vom ständigen Luftalarm in Angst und Schrecken versetzt zu werden, ohne beim Blick in den Himmel die Drohnen auf ihrem Weg zu Tod und Zerstörung hören und sehen zu müssen, „und mit Strom und Heizung, überall ist es hell und warm“, bricht es aus Nataliya Schmurikova buchstäblich hervor. Ein Moment, in dem die Verzweiflung über den Angriffskrieg der Russen spürbar wird, weil die Zerstörung der Energieversorgung das Überleben noch schwieriger macht.
Gäste aus Ukraine fühlen sich in Stuttgart wohl: „Überall ist es hell und warm.“
Sie sind keineswegs zur Erholung nach Stuttgart gekommen. Sondern um Arbeit und Bedeutung zivilgesellschaftlicher Organisationen kennenzulernen. Um Anregungen zu bekommen. Dafür hat die Delegation in vier Tagen ein Mammutprogramm absolviert, das die Bürgerstiftung Stuttgart, an der Spitze Afina Albrecht, organisiert hat und das von der Robert-Bosch-Stiftung finanziert wurde. „Es geht jetzt darum, wie wir die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger für eine aktive Rolle beim Wiederaufbau ihres Landes stärken können“, umreißt die gebürtige Ukrainerin das Ziel dieses Projektes.
Markus Lux von der Robert-Bosch-Stiftung, Afina Albrecht von der Bürgerstiftung Stuttgart, und Irene Armbruster, Geschäftsführerin der Bürgerstiftung Stuttgart, beim Besuch der Delegation. Foto: Bürgerstiftung Stuttgart
Es ist der vierte Tag des Stuttgart-Aufenthaltes, die Gäste kommen nach einem Empfang im Rathaus durch Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann im Treffpunkt Rotebühlplatz zu einem Abschlussgespräch zusammen, in dem es auch um Frauen in Führungspositionen geht. Vier Tage lang haben sie, aufgeteilt in fünf Gruppen zu Themen wie Frauen, Mütterzentren oder Mental Health, entsprechende Stuttgarter Einrichtungen besucht.
Sie waren zum Beispiel im Mutter-Kind-Zentrum in Bad Cannstatt, bei der Evangelischen Gesellschaft, in einem Frauenhaus, bei Lagaya, der Beratungsstelle für Suchtkranke und Prostitution, im Robert-Bosch-Krankenhaus, hatten Gespräche mit Vertretern der Abteilung Außenbeziehung im Rathaus und der Jugendhilfe- und Sozialhilfeplanung, und berichteten beim Besuch in der Stadtbibliothek, wie wichtig die Bibliotheken in Chmelnyzkyi als Treffpunkt für die Mütter und Kinder seien, deren Ehemänner und Väter an der Front oder gefallen sind.
Delegation aus der Ukraine absolviert in Stuttgart ein Mammutprogramm
„Ich wollte am Beispiel der vielen Organisationen in Stuttgart zeigen, wie die Kooperation und Kommunikation zwischen der Stadt und freien Trägern funktioniert und damit Mut machen“, sagt Afina Albrecht. Denn beim Wiederaufbau müsse die Zivilgesellschaft viele Aufgaben und Verantwortung übernehmen.
Die 37-Jährige, die vor 14 Jahren nach Deutschland gekommen ist, hat 2022 vom ersten Tag an nach dem Beginn des Krieges schnelle Direkthilfe für die in Stuttgart ankommenden Geflüchteten geleistet und wurde mit langfristigen Beratungsangeboten zur Brückenbauerin in die hiesige ukrainische Community. Die Stuttgarter Zeitung hat sie dafür mit einem Sonderpreis 2022 zur „Stuttgarterin des Jahres“ ernannt.
Als Stadträtin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Stuttgarter Gemeinderat ist sie selbst ein Vorbild für bürgerschaftliches Engagement. Jetzt konzentriert sie sich innerhalb von „Zuflucht Stuttgart“, dem Hilfsfonds der Bürgerstiftung, auf die Zukunft ihrer ehemaligen Heimat. Dort, so Afina Albrecht, lägen bisher soziale Aufgaben vorwiegend noch in der Hand von Stadtverwaltungen und Behörden.
Auch im Stuttgarter Rathaus gab es einen Besuch der Delegation. Foto: Bürgerstiftung Stuttgart
In Chmelnyzkyi allerdings baue die Stadtverwaltung bereit konsequent die Beziehungen zu freien Trägern aus. Denn in diese Stadt, genau in der Mitte zwischen Kiew und Lwiw gelegen, seien seit Kriegsbeginn 1,7 Millionen Geflüchtete geströmt, heute machten die integrierten Binnenflüchtlinge zehn Prozent der 270.000 Einwohner aus. Das Mammutprojekt hat seine Wirkung nicht verfehlt, die Frauen sind hochmotiviert, voller Ideen und Anregungen.
Über alle Gruppen hinweg habe sich, kann Afina Albrecht feststellen, der Wunsch nach einem zentralen Ort in Chmelnyzkyi ergeben, wo diverse Organisationen ebenso unterkommen wie auch besonders gefährdete Zielgruppen. „Wir werden erste Schritte zur Schaffung eines solchen Ortes unternehmen“, kündigt Yana Melnyk an. Eine solche Einrichtung sei die Antwort auf die Herausforderungen der Zeit und ein Ort der Hoffnung für Familien, Kinder und Jugendliche, die Hilfe brauchen“, bestätigt Marianna Liubetska, die Direktorin des städtischen Sozialdienstzentrums.
Tatkraft statt Verzweiflung: Gäste aus der Partnerstadt wollen mit Mut zurück in den Alltag
Und Nadiia Bidun von der Organisation „Starke Frauen“ macht sich stark für die Gründung einer Bürgerstiftung nach dem Stuttgarter Beispiel, das vom ehemaligen Oberbürgermeister Wolfgang Schuster initiiert wurde und im nächsten Jahr 25-jähriges Bestehen feiern kann.
Die Besucher sind wieder heimgekehrt. In einen Alltag mit Angst und Bedrohung. Aber auch mit neuem Mut und Tatkraft.