Liebe
Leserin, lieber Leser,

ich saß im Auto, als die Nachricht kam. Wir hatten uns entschieden, doch
nicht den Zug in den Urlaub zu nehmen, gerade lagen die Elbbrücken
hinter uns, da vibrierte das Handy. Es waren Push-Meldungen und WhatsApp-Nachrichten,
dann klingelte es, eine Kollegin war dran. „Im Hauptbahnhof hat
jemand auf Menschen eingestochen.“

An diesem Freitagabend, dem 23. Mai, gegen 18.15 Uhr dachte ich an Terror. 18 Menschen waren verletzt, teilweise lebensbedrohlich,
zum Glück gelang es, sie zu retten. Doch was rechte Hetzer schon Minuten später im
Netz schrieben, dass wohl ein Mann mit Migrationshintergrund für die Tat
verantwortlich sei, war eine Lüge. Die Täterin hieß Lydia S., ein Syrer und ein
Tschetschene hatten sie überwältigen können.

Ab heute, fast genau ein halbes Jahr später, steht Lydia S. in Hamburg vor
Gericht. Es ist kein normaler Prozess, sondern ein sogenanntes
Sicherungsverfahren, weil die 39-Jährige psychisch krank ist. Lydia S. leidet
an paranoider Schizophrenie. Es gilt als wahrscheinlich, dass sie kaum oder gar
nicht wusste, was sie tat, und deshalb schuldunfähig ist, wie die Juristen
sagen. Für solche Fälle gibt es den Maßregelvollzug, eine gesicherte Klinik auf dem
Asklepios-Gelände in Ochsenzoll, kein Gefängnis.

Für eine Recherche durfte ich die Behandlung der Patienten dort einmal
länger begleiten. Ich traf Männer und Frauen, die ähnlich Unvorstellbares wie
Lydia S. getan hatten, die etwa ihr Kind im Wahn ermordet hatten oder ihre
große Liebe. Sie beschrieben das selbst wie einen Schleier, einen Schatten,
einen bösen Traum, der sie für immer verfolge. Mit den richtigen Medikamenten
ging es ihnen dennoch besser, zumindest den meisten von ihnen.

© ZON

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Der Chefarzt sagte mir damals einen Satz, der sich eingebrannt hat: „Wir sind die letzte Verteidigungslinie der Psychiatrie.“ Das bedeutet, wer dort landet, hätte viel früher richtige Hilfe erhalten
sollen. Nach dem Angriff im Hauptbahnhof konnten wir rekonstruieren, dass Lydia S. eine schwindelerregende Odyssee durch verschiedene Kliniken hinter sich hatte (Z+).
Nirgends wollte oder konnte sie dauerhaft bleiben. Sie war eine „Drehtürpatientin“, von denen es wohl Hunderte in Hamburg gibt (Z+), Menschen, die durch
Lücken im System fallen.

Der Senat will diese Lücken schließen, mit einem neuen Psychiatrieplan, den
mein Kollege Tom Kroll hier (Z+) analysiert hat. Nur ein ganz kleiner Teil
aller psychisch Kranken wird jemals gewalttätig, und doch muss der Plan
funktionieren, um Taten wie die am Hauptbahnhof künftig zu vermeiden. Der
Prozess gegen Lydia S. wird nicht öffentlich sein.

Ich wünsche Ihnen einen
schönen Tag,

Ihr Christoph Heinemann

Wollen Sie uns Ihre
Meinung sagen, wissen Sie etwas, worüber wir berichten sollten? Schreiben Sie
uns eine E-Mail an hamburg@zeit.de.

WAS HEUTE WICHTIG IST

Der Hamburger Hafen setzt seinen unverhofften Aufschwung (Z+) fort. Von Januar bis
September wurden 6,3 Millionen Standardcontainer umgeschlagen, 8,4 Prozent mehr
als im Vorjahr, teilte die Hafen Hamburg Marketing mit. Der Seehandel innerhalb
Europas und mit Asien wächst, während das Geschäft mit den USA abnimmt.

© picture alliance/​dpa|Bodo Marks

Die Mordkommission der Polizei ermittelt nach einem Schusswaffenangriff
in Eidelstedt.
Ein 24 Jahre alter Mann hatte am Sonntagabend offenbar in
seinem Auto gesessen, als ein Unbekannter sich näherte und mindestens einen
Schuss auf ihn abgab. Der Mann wurde schwer verletzt, der Schütze floh in
Richtung einer Autobahnbrücke über die A23.

Nach dem rätselhaften Tod einer Hamburger
Mutter und ihrer zwei Kinder
ist auch der Vater in einer Klinik in Istanbul
verstorben. Inzwischen gab es laut Medienberichten elf Festnahmen der örtlichen
Behörden. Darunter sind Mitarbeiter einer Firma, die Ungeziefer bekämpft,
Streetfood-Verkäufer, ein Bäcker und ein Verantwortlicher des Hotels, in dem
die Familie ihren Urlaub verbracht hatte. Es besteht der Verdacht auf eine
tödliche Vergiftung mit Pestiziden oder Lebensmitteln.

In aller Kürze

Die Gemeinschaftsproduktion „odyssee.hamburg“
erhält in diesem Jahr den mit 50.000 Euro dotierten Barbara Kisseler
Theaterpreis
. Damit gewinnen Ernst Deutsch Theater, Ohnsorg Theater und
Lichthof Theater gemeinsam den Preis für Privattheater und Freie Gruppen
Die Diakonie ruft ab sofort zu Geschenken für Bedürftige zur Weihnachtszeit
auf. Warme Mützen, Socken und Handschuhe sowie Drogerie-Gutscheine können bis
zum 5. Dezember per Post geschickt oder persönlich in der Königstraße 54
abgegeben werden Die traditionelle Alstertanne ist in Hamburg
zur Binnenalster gebracht und aufgestellt worden. Sie soll in den nächsten
Tagen geschmückt werden, am 26. November wird dann die Beleuchtung der Tanne
angeschaltet

THEMA DES TAGES

© Gregor Fischer/​dpa/​pa

„Die vergangenen Monate waren intensiv“

Jackson Irvine, der Kapitän des FC St. Pauli, trat
in einem „Free
Palestine“ -Shirt auf. Am Wochenende musste der linke Verein
darum klären, was „links sein“ bedeutet. Lesen Sie hier einen Auszug aus dem
Artikel von ZEIT:Hamburg-Autor Christoph Twickel.

Als Oke Göttlich am Wochenende im Audimax der Uni Hamburg
ans Mikrofon trat, lag im Saal eine gewisse Spannung in der Luft. Würde es
heute zu lautstarken Auseinandersetzungen über den Nahostkonflikt kommen, zu
Antisemitismusvorwürfen, gegenseitigen Beschimpfungen – oder gar zum Eklat? Die
Debatten im Vorfeld der jährlichen Mitgliederversammlung waren aufgeheizt
gewesen, mehrere Anträge zur Position des Vereins in Sachen Antisemitismus
standen zur Abstimmung. Unter den rund tausend Anwesenden im Saal trugen viele
Antifa-T-Shirts, Ringelsocken und Schals in LGBTQ-Regenbogenfarben, auch
Hoodies mit der Aufschrift „Gegen jeden Antisemitismus“.

Göttlich, seit elf Jahren Präsident des Vereins, war der
erste Redner des Tages, und begann zunächst mit Erfolgsmeldungen: Man konnte
sich dieses Jahr den Klassenerhalt in der Bundesliga sichern, habe erstmalig
mehr als 100 Millionen Euro Umsatz gemacht, und – noch wichtiger – mit der
Gründung der FCSP-Genossenschaft vor einem Jahr haben die inzwischen rund
22.000 Mitglieder die Mehrheit am Millerntor-Stadion übernommen. „Wir haben den
Klassenkampf angenommen, auf dem Platz und in der Struktur des Vereins“,
verkündete er. „Das Millerntor gehört keinem Investor, sondern den Mitgliedern
der Genossenschaft.“ Dann sprach er auch direkt das heikle Thema der Stunde an:
„Wir lassen uns bei schwierigen Themen nicht treiben oder zur Einseitigkeit
drängen“, sagte Göttlich. Humanität sei „unteilbar“.

Ein Stadion, das einer Genossenschaft gehört, ein
mitgliedergeführter Verein, in dem Antifaschismus zum guten Ton gehört und an
dessen Spieltagen regelmäßig für linke Demonstrationen mobilisiert wird: Der FC St. Pauli ist ein politisch linker Verein. Doch was „links“ bedeutet, wenn es
um den Nahostkonflikt geht, das ist nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023
und dem folgenden Krieg in Gaza eine Frage, an der erbitterte Fronten
entstanden sind.

Warum der Kapitän Jackson Irvine ein Popstar des Vereins
ist und wie der FC St. Pauli nun seinen eigenen Antisemitismusbegriff klären
will, lesen Sie weiter in der ungekürzten Fassung auf zeit.de.

DER SATZ

© Alena Schmick/​DIE ZEIT

„Also das wird quasi zweimal reingestopft, die gleiche
Flasche ­– und dann werden zwei Bons ausgeschüttet.“

Mit diesem und
anderen Beispielen versuchen Anne Brorhilker und die beiden „Alles
gesagt?“-Gastgeber, das CumEx-Geflecht greifbar zu machen. In der aktuellen
Podcastfolge spricht die ehemalige Staatsanwältin mit Jochen Wegener und
Christoph Ahmend über kriminelle Männer, Behördenkultur und die Frage, warum es ihr hilft, introvertiert zu sein.

DAS KÖNNTE SIE INTERESSIEREN

Der architektonische
Entwurf für die neue Oper in Hamburg ist ausgewählt. Doch „Braucht Hamburg eine
neue Oper?“ Zu diesem Thema diskutieren heute Abend Martina Koeppen (SPD),
Marco Hosemann (Die Linke), Frank Schmitz (Architekturhistoriker Universität
Hamburg) und Christian Voss (Technischer Direktor der Staatsoper Hamburg) in der Freien Akademie der Künste. Fragen wie
zum Beispiel, ob der historische Standort am Gänsemarkt einfach aufgegeben
werden sollte oder nach dem historisch belasteten Gelände am Baakenhöft oder
nach dem Vermögen des Spenders und seiner Steuerpraxis werden zur Sprache
kommen. Florian Zinnecker moderiert die Veranstaltung.

„Braucht Hamburg eine neue Oper?“, 18.11., 19 Uhr, Freie Akademie der Künste,
Klosterwall 23; Anmeldung unter info@fadk.de oder 040-324632

MEINE STADT

Fast fertig: Die Alster-Weihnachtsdeko © Stefanie Rother

HAMBURGER SCHNACK

Neulich in der
S-Bahn. Schüler: „Boah, ich muss heute noch für Mathe lernen und habe gar keine
Zeit.“ Schülerin: „Wann bist du denn zu Hause?“ Schüler: „Um 5 Uhr.“ Schülerin:
„Und wann gehst du schlafen?“ Schüler: „Um 11 Uhr. “ Schülerin: „Dann hast du
ja acht Stunden zum Lernen.“ Schüler: „Jo, passt.“

Gehört von Walter
Stahlschmidt

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