Es gibt „Tatort“-Folgen, die einem klaren Muster folgen: Vorspann, Tat, Ermittlungen und ein klarer Spannungsbogen bis zum Fahndungserfolg. Und es gibt Episoden, in denen der Mord nur eine Nebenrolle spielt. Dort rückt eine leise und empathische Erzählung in den Mittelpunkt. Die neue Stuttgarter Ausgabe „Überlebe wenigstens bis morgen“ gehört zu dieser zweiten Art. Die SWR-Produktion läuft am Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

Eine Figur, die leise bleibt – und kaum vermisst wird

Im Zentrum steht Nelly Schlüter. Ihre Geschichte beginnt mit einer Stimme aus dem Off: „Rücken Sie doch mit dem Stuhl näher heran, dann erzähle ich Ihnen meine Geschichte.“ Sie berichtet von Enttäuschungen, langen einsamen Stunden und der Sehnsucht nach Gesellschaft. „Es ist, als würde ich ganz laut um Hilfe rufen, aber es hört mich keiner“, sagt sie später und starrt ins Leere.

Zu diesem Zeitpunkt haben sich viele bereits abgewandt. Die beste Freundin hat mit ihrer jungen Familie ein neues Leben begonnen, Nachbarn wollen nichts wissen, die Eltern haben ihre Tochter monatelang nicht gesehen. Mit jedem Versuch, Zuneigung und Bestätigung zu bekommen, werden die Gräben tiefer. Viele beschreiben Nelly als freundlich, aber zu fordernd und anhänglich – als jemanden, der im anonymen Großstadtleben Nähe sucht, wo andere lieber Abstand halten. Über ihr Unglück schweigt sie und bleibt oft für sich.

Als ihre Leiche schließlich schwer verwest in der Wohnung entdeckt wird, sind die Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) erschüttert. Niemand hat Nelly in den vergangenen Monaten vermisst, der Briefkasten ist leer. Die Trauer früherer Liebhaber und der einst besten Freundin bleibt überschaubar.

Einsamkeit als modernes Thema

Der Film macht deutlich, dass Nellys Geschichte kein Einzelfall ist. „Einsamkeit ist kein Privileg der Alten mehr“, sagt Bootz an einer Stelle. Je nach Altersgruppe fühlt sich ein Drittel bis knapp die Hälfte der jungen Erwachsenen in Deutschland einsam oder stark einsam. Besonders betroffen sind 19- bis 22-Jährige und Menschen mit Migrationsgeschichte, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Einsamkeit gilt als modernes Thema, das erst langsam sein Tabu verliert.

Drehbuchautorin Kathrin Bühlig beschreibt, wie schwierig es sei, diesen Schwerpunkt in einen „Tatort“ zu integrieren, der sonst vor allem von einer spannenden Ermittlung lebt. „Einsamkeit ist verdammt unsexy, sie ist traurig, man fühlt sich ausgeschlossen und alleingelassen“, sagt sie. Dennoch rückt die Episode die Gefühle der Hauptfigur in den Vordergrund und lässt den klassischen Krimiplot bewusst im Hintergrund.

Zwei Ebenen, ruhige Ermittlungen

Während Nelly dem Publikum immer wieder Einblicke in ihr Leben gibt, bleibt sie den Ermittlern fremd. Man schaut eher mit ihr als auf sie. Die Fassungslosigkeit über „die Welt da draußen“ spiegelt sich in den blassen Gesichtern der Kommissare, in Pausen und in einer Sprachlosigkeit, die die Kamera oft einen Moment länger stehen lässt als üblich. Lannert und Bootz ermitteln ruhig, konzentriert und nachdenklich, geführt von Regisseurin Milena Aboyan.

Allein ist Nelly nicht mit ihrer schwer angeknacksten Psyche. Der „Tatort“ zeigt, wie sie in Traumwelten abschweift, in denen sie liebenswert, perfekt und beneidenswert glücklich sein darf. Ihr Schicksal wird mit einer zweiten Ebene und einem weiteren Fall verwoben.

„Ich habe zwei Zeitebenen gewählt, damit die Zuschauer einerseits das Gefühl miterleben können und trotzdem ein ‚Tatort‛ erzählt wird“, erklärt Bühlig. Sie macht in ihrer Geschichte auch deutlich: Es gibt Menschen, die mit der Einsamkeit Geschäfte machen.