Es passiert selten, dass die Berliner Polizei die Hauptstadtpresse so spontan zu einem Medientermin vor dem Präsidium am Platz der Luftbrücke einlädt. Oft gehen Einladungen für geplante Pressekonferenzen mindestens eine Woche vorher an die E-Mail-Verteiler. Am Montag, als Polizeisprecher Martin Halweg gegen 13.15 Uhr vor die aufgebauten Fernsehkameras trat, war es anders.

Seiner Stellungnahme vorausgegangen war eine äußerst kurze Vorlaufzeit. Sie zeigt, wie bemüht die Sicherheitsbehörden darum waren, der sich seit Sonntag ausbreitenden Unruhe um eine digitale Terrordrohung gegen zahlreiche Berliner Schulen Einhalt zu gebieten.

Die Panik ausgelöst hatte am Sonntag der Inhaber des YouTube-Kanals „Berlin Berlin TV“, Lothar S., der vor allem für Livestreams von Demonstrationen bekannt ist. Der Kanal existiert seit etwa fünf Jahren und hat circa 17.000 Follower. Schwarz gehört zum Milieu undurchsichtiger Onlinestreamer, die sich hauptsächlich zu Zeiten der Pandemie durch journalistisch fragwürdige Videoberichte von Protesten gegen die Coronamaßnahmen etablierten.

Am Sonntagmorgen wandte sich S. mit einer Nachricht an die Abonnenten seines Telegram-Kanals und sprach in einem Video eine „akute Terrorwarnung für Berliner Schulen“ aus. Zuvor war eine unbekannte Frau seinem öffentlichen Telegram-Kanal beigetreten und hatte dort eine Nachricht in russischer Sprache hinterlassen, in der sie auf den angeblichen Anschlagsplan einer islamistischen Terrorgruppe samt Drohungen gegen 20 Berliner Schulen verweist. Diese angebliche Gruppe hatte die Drohung ebenfalls auf einem kurz zuvor erstellten russischen Telegram-Kanal öffentlich gemacht und dort auch Fotos von Waffen gepostet.

Statt Notruf, „akute Terrorwarnung“

Der Berliner Streamer Lothar S. schaltete zwar die Polizei durch eine Onlineanzeige ein, wählte aber nicht den Notruf, sondern entschied sich stattdessen, die Drohung selbst öffentlich zu machen. Dank der sozialen Netzwerke und Klassen- sowie Elterngruppen auf WhatsApp verbreitete sich die Nachricht über die angebliche Drohung in Windeseile. Die Folge: massive Unruhe im Umfeld vieler Berliner Schulen, darunter auch Einrichtungen, die nicht mal auf der veröffentlichten Liste zu finden waren.

Am Montag schließlich blieben trotz Entwarnung der Berliner Polizei und dem Appell, die Drohung nicht ernst zu nehmen, zahlreiche Berliner Klassenzimmer sehr viel leerer als sonst. Zum einen, weil Eltern ihre Kinder aus Sorge nicht in die Schule schickten, zum anderen, weil wohl auch Schüler die Gunst der Stunde eines schulfreien Wochenstarts bewusst nutzten. Die Polizei zeigte gleichzeitig stadtweit Präsenz vor vielen Schulgebäuden.

Dass die Warnung zuerst in russischen Telegram-Kanälen aufgetaucht ist und offenbar viele sachliche Fehler, wie etwa inkorrekte oder nicht mehr existierende Schulnamen, enthält, deutet allerdings schon auf eine ausländische Urheberschaft hin.

Peter Neumann, Terrorismus- und Sicherheitsexperte

Mittlerweile hat der für politische Delikte zuständige Staatsschutz die Ermittlungen übernommen. Ein Hinweis darauf, dass man es auch in den Sicherheitsbehörden für durchaus denkbar hält, dass das Anschlagszenario als gezielte Desinformation gestreut worden ist.

Rätsel um die Schulen auf der Liste

Rätsel gibt die Liste der angeblichen Anschlagziele auf: Sie enthält nicht nur drei Schulen, die nicht mehr existieren, und einige falsche Schulnamen, sondern auch einen Verein für mehrsprachige Erziehung, gegründet von Eltern, deren Kinder mit den Sprachen Deutsch und Russisch aufwachsen.

Neben einigen öffentlichen Berliner Schulen und anderen freien internationalen Schulen werden auch zwei Privatschulen mit russischer Prägung aufgeführt. Es wirkt wie eine Liste, die von einer schlecht informierten Künstlichen Intelligenz mit einer Präferenz für russische Bezüge erstellt wurde.

„Ob staatliche Stellen in Russland dahinterstehen, kann zu diesem Zeitpunkt niemand mit Sicherheit sagen. Dass die Warnung zuerst in russischen Telegram-Kanälen aufgetaucht ist und offenbar viele sachliche Fehler, wie etwa inkorrekte oder nicht mehr existierende Schulnamen, enthält, deutet allerdings schon auf eine ausländische Urheberschaft hin“, sagt Terrorismus – und Sicherheitsexperte Peter Neumann dem Tagesspiegel.

Es würde zur Absicht Russlands passen, Deutschland und andere Gesellschaften, die die Ukraine unterstützen, von innen heraus durch die Manipulation der öffentlichen Meinung zu „destabilisieren“, sagt Neumann und erinnert an den „Fall Lisa“. Im Kontext der Flüchtlingskrise 2015/16 hatten russischsprachige Medien wochenlang die Falschnachricht einer angeblichen Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens aus Berlin-Marzahn durch einen Geflüchteten verbreitet.

Ob es sich bei der angeblichen Anschlagsdrohung um ein weiteres Beispiel dieser Art handelt, müssen nun die Behörden klären, sagt Neumann. Tatsächlich führt auch abseits der russischen Sprache der Terrorankündigung noch eine weitere Spur nach Russland.

Der „Welt“ ist es gelungen, das mittlerweile gelöschte Telegram-Profil von der Frau zu rekonstruieren, die den Streamer Lothar Schwarz erstmals auf die angeblichen Anschlagspläne hinwies. Nach Angaben der Zeitung handelt es sich um eine Frau, die sich Natalja I. nennt. Der Name existiert wohl tatsächlich und wird von einer Person getragen, die eine Moskauer Universität leitet. Diese äußerte sich bisher nicht auf Anfrage.

Fest steht unterdessen, dass die Panik unter Berliner Schülern und Eltern wohl ausgeblieben wäre, hätte Lothar S. nicht seine „akute Terrordrohung“ veröffentlicht. Der Streamer war am Montagnachmittag bei einem Videoformat von „Björn Banane“ zu Gast, einem weiteren Akteur der verschwörungsideologischen, pseudo-journalistischen Szene. „Banane“ begann ebenfalls zu Coronazeiten mit Livestreams und steht mittlerweile auf der Gehaltsliste der Brandenburger AfD.

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Eine knappe Stunde berichtet Lothar S. in dem Video seinem Kollegen von der Aufregung um die angebliche Anschlagsdrohung. „Wir wollen hier wie gesagt nicht den öffentlichen Frieden stören, wir wissen nicht, wie ernst zu nehmen sowas ist“, betont „Björn Banane“ zwischendurch. „Ich bin allerdings Vater eines Kindes und kann mit so einer Information überhaupt nicht umgehen und habe sie deswegen gestern Abend noch in meinem privaten Freundeskreis gestreut.“

Damit trifft er es ironischerweise auf den Punkt: Dubiose Streamer ohne jegliche journalistische Verantwortung verbreiten gefährliche Falschnachrichten und versetzen damit Tausende Berliner Familien in Panik.