Du musst auf der Hut sein, dass dieser Mann Dich nicht ansteckt mit seinem „Leben gegen jede Wahrscheinlichkeit“. So nennt er es. Sonst kann es passieren, dass auch Du morgens um halb fünf mit einem zum Rettungswagen für Lebensmittel umfunktionierten Kangoo auf dem Hof der Großbäckerei Kraus in Feldkassel strandest, um dort die Retouren der Backwaren des Vortags zu retten, die im Morgengrauen an den Ort zurückkehren, den sie 24 Stunden zuvor als Frischware verlassen haben.
Christian Horsters macht das seit 13 Jahren. Öffnet die Hecktüren, schiebt die leeren Plastikkisten von der Ladefläche, voller Enthusiasmus, was es heute wohl zu retten gibt.
Was muss das für ein Gefühl sein, so begrüßt zu werden? Für das Körnerbrötchen, das am Vortag in der Auslage liegenblieb, für den halben Laib Brot, die verschmähte Nussecke oder die Rosinenschnecke, auf die abends um halb sieben keiner mehr Lust hatte? Vor all diesem Backwerk steht jetzt der Backwaren-Retter und strahlt, als habe er einen Goldschatz gefunden.
„Heute haben wir Glück“, sagt der 70-Jährige dem Reporter, klatscht in die Hände und gibt Anweisungen. Jeder der geschätzt 400 roten Plastikbehälter voll mit Backwaren, die aus dem Hintereingang gerollt kommen, wird sofort nach Verwertbarem durchsucht. „Nussecken sind selten und entsprechend gefragt. Unsere Kundschaft mag gern Süßes.“
In diesen Momenten kommt für Horsters alles zusammen: Idealismus, Freude und immer auch diese Ungläubigkeit darüber, wie viele Backwaren jeden Tag in Köln vernichtet werden.
Lebensmittelretter. Das ist seine Leidenschaft. Sie gegen jede Wahrscheinlichkeit aber auch leben zu können, verdankt der 70-Jährige einem unglaublichen Zufall. Im Mai 2010 legt er auf einer Hochzeit in Bergisch Gladbach als DJ auf. „Das habe ich zuvor an den Wochenenden mehrfach gemacht. Das war mein Hobby.“

5,5 Millionen Klicks mit diesem Video: Christian Horsters legt bei einer Hochzeit in Bergisch Gladbach im Jahr 2010 als DJ auf und wird dabei gefilmt. Das Video geht bei Youtube durch die Decke.
Copyright: Sven Lützenkirchen/Youtube
Doch diesmal ist alles anders. Sein Auftritt wird gefilmt und bei Youtube hochgeladen. Dabei macht Horsters hinter seinem Pult eigentlich alles wie immer. Er rudert wild mit den Armen, springt auf, reißt sich die Brille von der Nase, pfeift auf den Fingern und dreht so richtig am Rad. Zur Musik von David Guetta. Das Video geht viral. 5,5 Millionen Menschen werden es in den kommenden Monaten anklicken. Im August wird er zum ersten Mal für einen Auftritt in einem Club in Frankfurt gebucht. „Da waren 2000 Leute, alle haben mich erkannt. Die gingen total ab.“
Christian Horsters, der DJ der guten Laune, geht durch die Decke. Die Frage nach dem Warum stellt er sich erst gar nicht. Fernsehshows fragen ihn an, er reist an den Wochenenden quer durch Deutschland, legt überall in Europa auf, vor allem in Skandinavien. Ein Sekundenauftritt im TV-Werbespot eines Baumarkts befeuert den Hype um seine Person und sorgt dafür, dass er nicht mehr unerkannt über die Straße gehen kann.
„Auf einmal habe ich gespürt, jetzt ist der Zeitpunkt, mein Leben zu ändern.“ Die DJ-Auftritte machen ihn finanziell unabhängig. Horsters gibt seinen Job als Bürokaufmann in einem Textilunternehmen auf. Da ist er 55. „Das musst Du Dir mal vorstellen“, sagt er. „Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Dir so etwas im Leben passiert.“
Das Video war für mich besser als ein Lottogewinn. Es hat mir viele neue Türen geöffnet
Christian Horsters, Lebensmittelretter und DJ der guten Laune
„Im Büro war ich immer völlig fehl am Platz“, sagt er und widmet sich der nächsten Plastikkiste voller Rosinenschnecken und Berliner. „Ich habe das nur gelernt, weil mir nichts anderes eingefallen ist. Wenn man 28 Jahre einen Job macht, der einem nicht gefällt, ist das im Grunde richtig scheiße. Das Video war für mich besser als ein Lottogewinn. Es hat mir viele neue Türen geöffnet.“
Es wird nicht der einzige Zufall bleiben. Nicht der einzige Moment, der sein Leben verändert. Die zweite Wende kommt nach einem Kinoabend.
„Taste the Waste“, der Dokumentarfilm von Valentin Thurn über den Umgang der Industriegesellschaften mit Nahrungsmitteln und die globalen Ausmaße von Lebensmittelabfall, der 2011 in die Kinos kommt, trifft ihn ins Mark. „Mich hat das sehr verstört, an welchen Stellen überall Lebensmittel verschwendet werden und welche Folgen das hat.“

Die Ausbeute eines Tages: Der DJ der guten Laune hat seine Berufung gefunden und in Köln ein großes Netzwerk zur Rettung von Lebensmitteln aufgebaut.
Copyright: Peter Berger
Der DJ der guten Laune ist mit einem Schlag Geschichte. Horsters legt immer seltener auf, lernt den Regisseur persönlich kennen und steigt wenig später bei der Kölner Tafel ein. Auch Thurn lässt das Thema nicht mehr los. Er gründet den Verein Foodsharing e.V., mit dem Ziel, Anlaufstellen zu schaffen, über die Lebensmittel verteilt werden können. Und das nicht nur an Bedürftige.
„Das war für mich wie eine Erweckung. Mein Erfolg als DJ der guten Laune hat mich finanziell unabhängig gemacht. Ich hatte auf einmal endlich die Zeit, mich um Umweltthemen zu kümmern und nachhaltig zu leben. Das war vorher nie der Fall. Für mich ist das ein absoluter Glücksfall, endlich so zu leben, wie ich mir das immer vorgestellt habe.“ Um viertel nach fünf aufzustehen und ins Büro zu fahren, sei ihm immer eine Qual gewesen. „Da bin ich doch lieber schon morgens um halb vier unterwegs, um leckere Backwaren zu retten.“
Horsters macht keinen Hehl daraus, dass dieser radikale Wandel auch negative Folgen hat. Seine Ehe scheitert, seine beiden Söhne können die Begeisterung, mit der ihr Vater als DJ der guten Laune zur Berühmtheit wurde, nur bedingt teilen. „Das kann man auch nicht erwarten. Zum Glück haben wir wieder zueinander gefunden“, sagt er.
Horsters gründet Food for Future Köln mit dem Ziel, möglichst viele Lebensmittel vor der Vernichtung zu retten. Seit August 2022 konzentriert er sich ausschließlich darauf, Backwaren zu retten. In den Jahren zuvor haben Horsters und seine Mitstreiter 98 Supermärkte in Köln dazu gebracht, die Retouren zu spenden. Aldi, Rewe, Lidl, Netto, Penny. Die Großen sind alle an Bord. „Das Netzwerk haben wir anderen Organisationen übergeben. In diesen Supermärkten wird heute nichts mehr weggeschmissen, was noch genießbar ist.“
Food for Future versorgt täglich 2000 Menschen in Köln mit Backwaren
Das sei bei den Bäckereien leider immer noch anders. Ein Grund für die hohe Rückläuferquote ist die unausgesprochene Regel, bis zum Geschäftsschluss das volle Sortiment anbieten zu müssen. „Wer da ausschert, zieht sich den Ärger der Kunden zu. Die kaufen dann halt bei der Konkurrenz“, sagt Horsters. Bis zu 30 Prozent aller Backwaren in Deutschland werden nicht verkauft. Tag für Tag.
Der DJ der guten Laune organisiert die erste große Verteilung 2015 an der Thomaskirche im Agnesviertel. Seither ist es ihm gelungen, etliche Bäckereien zum Mitmachen zu bewegen, darunter Klein’s Backstube, Schmitz-Nittenwilm, Manufactum, Epi, Schneider in Elsdorf, Prot im Belgischen Viertel und das Café Riese. „Die haben sich alle überzeugen lassen. Heute versorgen wir im Schnitt 2000 Menschen am Tag mit geretteten Backwaren. Wir haben Zugriff auf 350 Filialen.“ Rund 60 Freiwillige sind dafür täglich in Köln unterwegs. Auch an den Wochenenden.
Die Bilanz im Oktober 2025: 850 Tonnen Lebensmittel im Wert von 2,3 Millionen Euro hat er im Alleingang gerettet, sein Netzwerk von Food for Future Köln hat insgesamt die Rettung von 9700 Tonnen im Wert von 30 Millionen Euro organisiert. Dazu zählen Lebensmittelretter in Worringen, Dormagen, in der Südstadt, die Kölner Tafel, die Ausgabe des 1. FC Köln St. Karl in Sülz, die Tafelausgabe St. Aposteln, Juttas Suppenküche und die Sozialeinrichtung De Flo in Nippes.
Gerade 70 geworden, ist Christian Horsters nicht mehr jeden Tag unterwegs. Er nutzt sein Netzwerk, um weitere Supermärkte und Bäckereien in Köln zum Mitmachen zu bewegen.
Es sei denn, eine seiner Helferinnen oder ein Helfer fällt aus. Und wenn er mal wieder „schlaflos“ ist, wie er sagt. Dann setzt er sich in den umgebauten Kangoo und fährt um halb vier los. Zur Großbäckerei Kraus nach Feldkassel. Um dort zu retten, was im Überfluss zu retten ist. Scherzt mit José, der die „Ware“ herausrollt und freut sich über jedes Brot, jedes Croissant und die Berliner, die mit der besten Marmelade gefüllt sind, die er je gegessen hat. Und „schlaflos“ ist der 70-Jährige immer noch. Weil er sich nicht damit abfinden will, dass tonnenweise Backwaren in Köln immer noch zu Tierfutter verarbeitet werden, weil sie keiner haben will.