Es war eine Nacht, die ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilte. Silvester 2024. Klara, 13, und Theo, 10, schauen sich das Feuerwerk mit ihrem Vater im dänischen Grasten an, als ein Auto vorfährt, schwarz gekleidete Männer rausspringen und sie mit Gewalt verschleppen. Was dann geschah, hat die Polizei genau rekonstruiert – und die Täter alle identifiziert.
Aber die entscheidende Frage war bislang offen. Sie wird seit Juli vor dem Landgericht Hamburg verhandelt: Wurden die jüngsten Kinder der Steakhouse-Erbin Christina Block im Auftrag ihrer eigenen Mutter entführt?
Es gibt einen Mann, der diese Frage beantworten könnte: David Barkay, 68, Chef einer israelischen Sicherheitsfirma, die sich „Cyber Cupula“ nennt, Ex-Agent für Geheimdienstoperationen. Mutmaßlicher Drahtzieher und Kopf des Entführungskommandos. Gesucht mit internationalem Haftbefehl.
Jetzt hat er es getan. Wie die Staatsanwaltschaft am Dienstag mitteilte, ist er schon im September für vier Tage nach Hamburg gereist, um auszupacken – und zwar gründlich. 329 Seiten füllen seine Antworten. Die wichtigste könnte zum Gamechanger in einem der spektakulärsten Prozesse der vergangenen Jahre werden.
Barkay behauptet: Christina Block sei von Anfang an den Planungen beteiligt gewesen.
Eine Geschichte wie ein Agenten-Thriller
Es ist das Worst-Case-Szenario für ihren Anwalt, Ingo Bott. Seine Verteidigungsstrategie? Futsch! Vor Gericht hatte sich seine Mandantin als Opfer von „Cyber Cupula“ dargestellt. Ihre Geschichte klang, als hätte sie sich der Autor eines Agenten-Thrillers ausgedacht. Und vielleicht ist das kein Zufall. Im Nebenberuf ist Ingo Bott Krimi-Autor.
Block, so geht die Geschichte, hatte behauptet, sie habe die Firma engagiert, um die Sicherheitslücken in der IT ihres Fünf-Sterne-Hotels „Grand Elysée“ schließen zu lassen. Mehrere Mitarbeiter hätten sich deswegen monatelang in ihrem Hotel „eingenistet“. Eine Frau, die im Prozess unter dem Decknamen „Olga“ firmiert, sei so etwas wie eine Freundin für Block geworden.
Sie vertraute ihr ihr Leid an. Sie erzählte ihr von ihrer gescheiterten Ehe. Von dem Sorgerechtsstreit um die Kinder, den sie vor Gericht gewann. Und davon, dass Theo und Klara im August 2021 nach einem Besuch bei ihrem Vater in Dänemark nicht wieder zu ihr zurückkehrten.
Olga, das muss an dieser Stelle erklärt werden, war nicht irgendeine Mitarbeiterin, sondern eine Vertraute von „Cyber Cupula“-Chef David Barkay. Eine ehemalige Soldatin, auch er war in der Armee. Diese Olga also, so erzählte es Block vor Gericht, hätte sich ab dem Sommer 2023 mehr für ihre Familiengeschichte als für die IT-Sicherheit ihres Hotels interessiert.
Sie hätte die Entführung eigenmächtig geplant – angeblich, um sie dann vor vollendete Tatsachen zu stellen und richtig abzukassieren. Der Überrumpelungseffekt. Wörtlich sagte Block: „Mit meiner Angst konnte man das perfekte Geschäft machen.“
Die Olga-Theorie platzt wie ein Luftballon
Die Olga-Theorie. Wenn es stimmt, was David Barkay den Ermittlern erzählt, platzt sie wie ein Luftballon, in den man mit einer Nadel gestochen hat. Vielleicht hat Ingo Bott schon geahnt, dass die Story nicht belastbar ist. Schon im September war er im Interview mit FOCUS zurückgerudert. Er hatte gesagt, es könne so gewesen sein. Es müsse aber nicht.
Jetzt hat er drei Wochen Zeit, sich eine andere Story auszudenken. Der Prozess wurde auf seinen Antrag hin unterbrochen. Ob und wann David Barkay dort als Zeuge auftritt, ist noch nicht geklärt. Sein Haftbefehl wurde aufgehoben. Er muss sich jetzt in einem eigenen Prozess für die „gemeinschaftliche Entziehung von Minderjährigen“ verantworten, sagt Oberstaatsanwältin Mia Sperling-Carstens dem FOCUS. Ein Delikt, das mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden könne. Dass er sich von sich aus gemeldet hat, könnte die Strafe mildern.


Aber wer ist dieser Barkay überhaupt? Und wie ist Christina Block ausgerechnet auf ihn gekommen? Ein Foto zeigt einen Beau in T-Shirt und Lederjacke. Durchtrainiert. Sonnengebräunt. Volles Haar. Er lacht in die Kamera. In seinem früheren Leben war er als Offizier in der 504. Einheit der israelischen Armee. Die ist berüchtigt, denn sie ist für die Suche nach Hamas-Terroristen zuständig und agiert wie ein Geheimdienst.
Nach Informationen von FOCUS hat er sich 2019 mit einer Sicherheitsfirma in Tel Aviv selbständig gemacht: „Cyber Cupula“. Später kommen Ableger in Großbritannien und im US-Bundesstaat Florida dazu. Im Januar 2023 trifft ihn Christina Block zum ersten Mal.
800 Übernachtungen im „Grand Elysée“
Der Kontakt, so fanden die Ermittler heraus, ist über einen israelischen Sicherheitsunternehmer zustande gekommen. Ein ehemaliger Geheimdienst-Agent. Am 18. Prozesstag trat er als Zeuge auf. Nein, sagte er, um Cybersicherheit sei es nicht gegangen. Sondern darum, „Informationen für die Familienangelegenheit über den Ex-Ehemann Stephan Hensel herauszubekommen.“ Von einer geplanten Entführung habe er nichts gewusst. „Strange“ sei die Geschichte und definitiv nicht sein „cup of tea.“
Befremdet reagierten auch Mitarbeiter im „Grand Elysée“. Denn Barkay, „Olga“ und andere Mitarbeiter tauchten 2023 nicht nur zu Bürozeiten in dem Hotel in der Villen-Gegend Rotherbaum auf. Sie zogen dort regelrecht ein. Sie meldeten sich mit Namen wie „Johnny Ford“, „George Blue“ oder „Doris White“ an. Die Zahl ihrer Übernachtungen summierte sich auf 800. Geld zahlten sie nicht. Kosten: 230.000 Euro.
Daten-Checks? Die hat es offenbar tatsächlich gegeben. Das belegen Rechnungen der Firma. Aber mehr Geld verdiente „Cyber Cupula“ von Anfang an damit, das Haus des Vaters der Kinder in Dänemark zu observieren. Zu welchem Zweck, diese Frage wird Barkay vor Gericht beantworten müssen. Lief es von Anfang an auf eine Entführung hinaus?
David Barkay und sein verlorenes Geschäftstagebuch
Der Staatsanwaltschaft hat er gesagt, den Auftrag dazu habe ihm Christina Block erteilt. Das deckt sich mit Infos, die Ermittler in einem seiner Geschäftstagebücher fanden. Er hatte es verloren, als er die Kinder in der Silvesternacht 2023/24 in einem Alpaka-Hof in der Nähe von Pforzheim abgeliefert hatte.
143 Seiten, ein Wirrwarr aus Zahlen, Skizzen und Stichworten. Die Vorsitzende Richterin las daraus am 22. Prozesstag vor. Es enthielt daneben aber auch Summen, die Barkay Christina Block für Dienstleistungen wie für die Installation von Überwachungskameras in Rechnung stellte. Vier-, manchmal auch fünfstellige Beträge.
Und das wirft eine Frage auf, die die Millionen-Erbin jetzt wohl noch einmal neu beantworten muss: Warum sollten Mitarbeiter, die sich jeden Handgriff bezahlen lassen, ausgerechnet bei der Entführung der Kinder in Vorleistung getreten sein?