In Wien haben sich 13 (fast ausschließlich ukrainische) junge Wissenschaftler:innen in einem Sammelband im Nachgang zu einer Tagung mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt – und dies vor allem aus Betroffenperspektive. Eine Rezension des Sammelbandes von Alexandra Palkowitsch (Bonn).
Im Vergleich zu den Tagen und Wochen nach dem 24. Februar 2022 hat der Krieg in der Ukraine in der öffentlichen Aufmerksamkeit spürbar an Dringlichkeit verloren. Was sich damals nach und nach abzeichnete, ist heute Realität: Der Krieg dauert nun schon mehrere Jahre, ist stets präsent – und zugleich doch nur eines von vielen Themen. Gerade in dieser Situation lohnt sich ein Blick in den kürzlich erschienenen Sammelband „War in Ukraine. Theological, Ethical and Historical Reflections“, der Gelegenheit zu vertiefter Lektüre bietet.
Es kommen fast ausschließlich ukrainische Stimmen zu Wort.

Eine grundlegende Einsicht zieht sich quer durch die Beiträge: Der Februar 2022 hat zwar die breite öffentliche Aufmerksamkeit auf den Krieg gelenkt. Begonnen hat er aber bereits acht Jahre zuvor mit der Annexion der Krym im Jahr 2014. Oder, wie Iuliia Korniichuk formuliert: „From the outset in 2014, the Russo-Ukrainian war remained largely localized as a regional conflict until February 2022, when it escalated to global significance with a full-scale invasion.“ (S. 200[2]) So nimmt auch der Sammelband seinen Ausganspunkt bei der Wende, die die Eskalation im westeuropäischen Denken ausgelöst hat. In den Beiträgen selbst wird dann aber die Perspektive gewechselt und es kommen fast ausschließlich ukrainische Stimmen zu Wort. Geboten wird eine bunte Auswahl an Aufsätzen. Sie folgt der Überzeugung, dass die Vielzahl der Fragen rund um Gegenwart und Geschichte des Kriegs gegen die Ukraine eine plurale, interdisziplinäre akademische Debatte braucht.
Ein erster thematischer Schwerpunkt liegt auf historischen Entwicklungen.
Einige Schlaglichter auf diese Diversität: Ein erster thematischer Schwerpunkt liegt auf historischen Entwicklungen, die für das heutige Kriegsgeschehen prägend sind. Volodymyr Shelukhin dekonstruiert etwa die Vorstellung, Ukrainer:innen seien lediglich eine Subgruppe der Russ:innen – und argumentiert, dass die Idee ethnischer Einheit zwischen Ukrainer:innen und Moskowiter:innen ein Mythos des 17. Jahrhunderts ist. Dmytro Bondarenko analysiert die historischen Wurzeln von Panslawismus und Mitteleuropa. Paulina Byzdra-Kusz geht Überlegungen zu einer polnisch-ukrainischen Föderation nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Andrii Zhyvachivskyi wiederum diskutiert die These, dass muslimische Einheiten im heutigen ukrainischen Militär in einer jahrtausendealten Tradition muslimischen Engagements für die Ukraine stehen.
Ein zweites großes Themenfeld: Kirchen und Religionen im Kontext des Kriegs in der Ukraine.
Damit ist man bereits mitten im zweiten großen Themenfeld des Bandes: Kirchen und Religionen im Kontext des Kriegs in der Ukraine. Alina Mozolevska analysiert auf Basis von zahlreichen Bildbeispielen die religiösen Motive in digitaler Kunst, die auf ukrainischen Instagramaccounts im Kontext des Krieges geteilt wird. Für Maksym Vasin ist Religion eine „key front“ des Krieges – er macht deutlich, dass religiöse Argumentationen weit über den bekannten Fall Patriarch Kyrills hinaus zur Rechtfertigung der russischen Aggression genutzt werden. Mechyslav Yanauer zeigt auf, wie komplex es ist, für die Frage der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats eine Lösung zu finden, die demokratischen und menschenrechtlichen Ansprüchen entspricht. Zwei weitere Beiträge analysieren kirchliche Stellungnahmen: Patrice Hrimle nimmt die Äußerungen des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus in den Blick, Kateryna Budz die Positionierung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche – beide verurteilen klar den russischen Angriffskrieg. Einem wieder anderen Aspekt widmet sich Iuliia Korniichuk, die die Haltung europäischer Institutionen gegenüber dem Moskauer Patriarchat untersucht. Dabei erarbeitet sie eine Spannung zwischen den in den letzten beiden Jahrzehnten größer gewordenen Bemühungen der EU um gute Zusammenarbeit mit religiösen Organisationen auf der einen und dem eigentlich zu erwartenden härteren Vorgehen gegen die russisch-orthodoxe Unterstützung der Aggression auf der anderen Seite.
Thematische Beispiele: Kulturelles Erbe, Gender, Migration und Kriegsverbrechen.
Neben diesen beiden großen Schwerpunkten macht der Sammelband in einzelnen Beiträgen noch einige weitere Themen auf. Elmira Ablialimova-Chyihoz zeigt, welch zentrale Rolle die Zerstörung kulturellen Erbes in der russischen Kriegsagenda spielt und analysiert die vermeintliche Renovierung des Khanpalastes von Bachtschyssaraj auf der Krym als koloniale Praxis. Mariana Myrosh untersucht die gegenderte Metapher der Ukraine als Frau, die im russischen politischen Diskurs weit verbreitet ist und imperial-hierarchische Ansprüche widerspiegelt. Roman Sigov wiederum richtet den Blick auf europäische Narrative zum Krieg in der Ukraine – und beschreibt, wie sehr sie von russischer Propaganda beeinflusst sind. Seine These außerdem: Migration werde gezielt als geopolitisches Instrument eingesetzt, um europäische Reaktionen auf den Krieg zu beeinflussen. Der Band endet schließlich mit dem bereits erwähnten Aufruf von Oleksandra Matviichuk, die dafür plädiert, die rechtliche Aufarbeitung russischer Kriegsverbrechen nicht auf das Kriegsende zu verschieben. Stattdessen skizziert sie einen Mechanismus, in dem nationale und internationale Richter:innen zusammenarbeiten und schon jetzt rechtliche Schritte einleiten sollen.
Die Stärke des Sammelbandes – und auch vieler einzelner Beiträge – liegt vor allem im Facettenreichtum.
Diese kurze Tour durch die Beiträge zeigt für mich vor allem eines: Die Stärke des Sammelbandes – und auch vieler einzelner Beiträge – liegt vor allem im Facettenreichtum. Gerade die Vielfalt eröffnet neue Perspektiven, auch dann, wenn man – wie ich – nicht tief im Thema steckt: Der Band weitet den Blick, führt in innerukrainische Debatten ein und macht Tiefendimensionen sichtbar, die im öffentlichen Diskurs oft untergehen.
Eine Besonderheit sticht dabei hervor: Die Autor:innen sind allesamt Nachwuchswissenschaftler:innen und kommen mit einer Ausnahme alle aus der Ukraine. Der Band nimmt damit bewusst eine Betroffenenperspektive ein und schafft Raum für Stimmen, „who are directly affected by the war and who are rarely given a voice in the discourse“ (S. 9). Damit berührt der Sammelband aus meiner Sicht ein Thema, das über seinen eigentlichen Fokus hinausweist: die Frage nach der Positioniertheit von Wissenschaft. Er hinterfragt den manchmal nach wie vor stark gemachten Widerspruch zwischen Parteilichkeit und Wissenschaftlichkeit – und stellt sich mit seinen Analysen selbst in den Dienst des „fight for a lasting, just peace.“ (S. 11)
Alexandra Palkowitsch, Dr. theol., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Christlichen Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
(Bildrechte: A. Palkowitsch)
Titelbild: Ausschnitt aus dem Buchcover
[1] Als Transparenzhinweis: Ich war Mitglied des Vorbereitungsteams dieser Tagung und habe als solches auch daran teilgenommen. An der Entwicklung und Umsetzung des Sammelbandes war ich nicht beteiligt.
[2] Die Seitenzahlen in Klammer beziehen sich alle auf den Sammelband.
