Wir schöpfen aus dem großen Buch der Rock’n’Roll-Folklore und schlagen die Seiten zu den frühen Achtzigern auf. Es war ein toxischer Mix aus Drogen, chaotischen Live-Shows und sich entwickelnden Animositäten, der Nick Caves Birthday Party am Ende zusammenbrechen ließ. Die in Australien gegründete Band, deren Mitglieder bald in London lebten und arbeiteten und zuletzt nach Berlin zogen, operierte am Rande einer „gewaltigen Explosion“, so hat es Birthday-Party-Gitarrist Mick Harvey einmal beschrieben. Der schmale Grat zwischen Spannung und Spannungen konnte irgendwann nicht mehr beschritten werden. Und die Bad Seeds waren noch nicht erfunden.
In dieses kleine Zeitfenster fällt die Zusammenarbeit von Nick Cave mit der Berliner Instrumentalband Die Haut (in der Besetzung Christoph Dreher, Martin Peter, Thomas Wydler und Remo Park). Die Haut spielt zwei Besonderheiten in diese wirren Jahre by the wall, sie nutzen die bisweilen feierliche Kraft von zwei E-Gitarren und sie nehmen ihre Stücke immer wieder mit Gast-Vokalist:innen auf, Debbie Harry, Blixa Bargeld und Lydia Lunch etwa, Kim Gordon, Anita Lane und Alan Vega. Eine Zeitlang ist das Loft von Haut-Bassist Christoph Dreher das Soziotop eines Berliner Underground-Netzwerks, über das der Neu-Berliner Nick Cave geradezu stolpern musste.
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Weil die Aufnahmestudios in Berlin zu teuer sind und der Plan, das Can-Studio in Weilerswist zu buchen, fehlschlägt, fällt die Wahl aufs „Studio Funk“ in Aachen, wo Dreher vor seiner Zeit in Berlin gelebt hat. Im Studio läuft es so: Die Musiker der Haut spielen die Tracks als Instrumentalversionen ein, Nick Cave, der mit seiner damaligen Freundin Anita Lane unterwegs ist, legt eine zweitägige Session für die Gesangsaufnahmen ein, später ist auf vier der sieben Albumstücke seine Stimme zu hören.
Das Album leuchtet wie keine andere Aufnahme den Raum zwischen Caves Birthday Party und den Bad Seeds aus
Das im August 1983 erstveröffentlichte Album, das lange nicht mehr in Vinylform erhältlich war, leuchtet wie keine andere Aufnahme den Raum zwischen Caves Birthday Party und den Bad Seeds aus. Jetzt haben die Hamburger Vinyl-Spezialisten von Grand Chess diese neu gemasterte Produktion von BURNIN’ THE ICE auf den Weg gebracht. Eine erste Wiederveröffentlichung war 2004 auf dem Label Hit Thing erschienen. Das von Larry Mullins, Teil der Live-Besetzung der Bad Seeds, kuratierte Label hatte durch zurückliegende Veröffentlichungen wie MORPHOSA HARMONIA von Thomas Wydler und der Mullins-Eigenproduktion CAMISSIONIA die Aufmerksamkeit von Cave geweckt.
Das Haut-meets-Cave-Album kommt nun in einer limitierten Auflage von 1.500 Exemplaren im Crystal-Clear-Vinyl heraus, für den US-Markt werden es 1.000 Exemplare in rotem Vinyl sein. Die Bilder, die im Booklet dazu gereicht werden, ordnen das Geschehen in die Zeit ein, der Nick Cave dieser Monate trägt einen Haaraufbau, der mit dem von Robert Smith (The Cure) konkurrieren kann. Die Musiker der Band haben sich den Stil der Bebop-Ära zu eigen gemacht, sie treten in Anzügen auf, versagen sich darüber hinaus den Kontakt zum Publikum und vermeiden alles, was eine Nähe zur Rock’n’Roll-Folkore andeuten könnte.
Es ist ein von den Neubauten und Joy Division informierter Sound
Wo steht BURNIN’ THE ICE musikalisch in diesen Postpunk- und Elektro-Pop-Tagen? Es ist ein von den Neubauten und Joy Division informierter Sound, der die Kompromisslosigkeit umarmt, hart und heißkalt und ganz nah an Noise gebaut, die sieben Tracks unterstreichen die Ausnahmestellung, die sich die Band und ihr noch nicht ganz so prominenter, visionärer Sänger in diesen Tagen erobern. In den Aufnahmen kommen auch die Surf-Impressionen der Haut mit dem Splatter-Blues von Cave zusammen, eine zutiefst amerikanische Erzählung aus der Intensivstation des Rock. „Stow-A-Way“ zu Beginn des Albums gibt eine Vorstellung davon, wohin Nick Cave mit seiner nächsten Band (Haut-Drummer Thomas Wydler wird ab 1985 zu den Bad Seeds gehören) steuern wird. Ein Song wie ein existenzialistischer Kurzfilm aus dem Nichts, Cave hat in der Liebe Schiffbruch erlitten und sinkt auf den Grund des Meeres, alle Rettungsversuche laufen fehl.
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Der mit sechseinhalb Minuten Spielzeit längste Track des Albums, „Dumb Europe“, beginnt im Feedback, die Gitarren klingen eher wie eine Schneidemaschine aus einem industriellen Betrieb, im Hintergrund beginnende dumpfe Beats und eine Stimme, von der man nicht ganz sicher sein kann, dass sie Nick Cave gehört, wenn man es nicht wüsste. Den Tod vor Augen meldet der Erzähler sich in „Dumb Europe“ von einem trostlosen Ort, die Seele schockgefroren: „And if I die tonight then throw me in / Some bleak teutonic hole /Six feet under with a snap-frozen soul“.
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