Drohnen, elektronische Aufklärung und präzises Feuer – in der
Ukraine zeigt sich, wie moderne Kriegsführung funktioniert. Doch ist der Krieg dort deshalb auch eine Vorlage für eine mögliche Auseinandersetzung zwischen Russland und der Nato?
Ein Soldat mit einer FPV-Brille testet die Fernsteuerung seines Anti-Drohnen-Systems in der Nähe von Charkiw.
Dominic Nahr / NZZ
Vor kurzem erinnerte der Deutsche Bundestag am Volkstrauertag an die Millionen Kriegstoten des 20. Jahrhunderts. Als Hauptredner sprach Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella von «Nachahmern dunkler Zeiten», die gerade den Traum vom Frieden in Europa zu zerreissen drohten. Ohne das Land beim Namen zu nennen, war klar, wen er damit meinte: Russland.
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Beinahe vier Jahre dauert der Krieg Russlands gegen die Ukraine inzwischen. Beide Länder zahlen einen hohen Blutzoll. In den Feldern zwischen Charkiw, Donezk und Cherson kann man sehen, wie Armeen in einer Welt kämpfen, in der das Gefechtsfeld fast vollständig transparent ist, in dem Drohnen den Luftraum dominieren und Präzisionsfeuer bis in die letzten Winkel der Front wirkt.
Dennoch, so meinen ranghohe Militärs in der Nato, sei dieser Krieg nicht die Vorlage für einen möglichen Waffengang Russlands gegen die Allianz. Gleichzeitig aber bietet das Geschehen in der Ukraine Anschauungsunterricht, wie ein moderner Landkrieg geführt wird. Welche militärischen Lehren also muss der Westen daraus ziehen?
Wie die Ukraine agiert
Unter dem Druck knapper Ressourcen und eines überlegenen Gegners haben die Ukrainer das westliche Verständnis von «combined arms», also der kombinierten Gefechtsführung von Infanterie, Panzern, Artillerie und Luftunterstützung, verändert. Diese Gefechtsführung unterscheidet sich etwa deutlich von grossen gepanzerten Durchbrüchen, wie sie die Ukrainer im Frühjahr und Sommer 2023 noch versucht haben. Sie bearbeiten jetzt nur einen begrenzten Frontabschnitt. Diese Operationen, so heisst es in einer neuen Studie des britischen Militär-Think-Tanks Rusi zum ukrainischen Vorgehen, bestünden aus vier Phasen.
Es beginnt klassisch mit der Aufklärung. Über Tage hinweg kartieren Drohnen, elektronische Sensoren und Aufklärer das Zielgebiet. Dabei erfassen sie nicht nur Schützengräben und Bunker, sondern auch Versorgungsrouten, die Wege von Truppenrotationen sowie Standorte von Artillerie, Flugabwehr, Störsendern und Drohnenpiloten.
In der zweiten Phase versuchen die Ukrainer, das Ziel von seinem Hinterland zu isolieren. Dazu verlegen sie etwa Minen, inzwischen vor allem durch Drohnen, um die russischen Nachschubwege zu blockieren. Ausserdem patrouillieren sie entlang von Verbindungswegen mit Drohnen, um einzelne Fahrzeuge und kleine Gruppen anzugreifen. Parallel dazu attackieren sie russische Artilleriestellungen, Flugabwehr und Systeme für den elektronischen Kampf. Dazu nutzen sie präzisionsgelenkte Artillerie oder Drohnen.
In einem Lagerraum in der Region Charkiw liegen Dutzende Drohnen auf Metallregalen bereit. Sie werden zur Bekämpfung russischer Angriffe vorbereitet.
Dominic Nahr / NZZ
In der dritten Phase richtet sich der Blick der Ukrainer wieder stärker auf das unmittelbare Geschehen an der Front. Auch hier gilt: Drohnen, Drohnen, Drohnen. Damit greifen die Ukrainer systematisch einzelne Stellungen, Kommandopunkte, Munitionslager und ausgebaute Schutzräume an. Eine scheinbar überall präsente, aber schwer fassbare Bedrohung aus der Luft soll dazu beitragen, die Russen zu zermürben.
Erst dann folgt in Phase vier der Angriff der Infanterie. Unterstützt von Drohnen, die gegnerische Bewegungen verfolgen, infiltrieren die Ukrainer die russischen Stellungen. Sie werden dabei von unbemannten Fahrzeugen und punktuell eingesetzter Artillerie unterstützt. Konzentrierter Beschuss, elektronische Störmassnahmen und Panzer zwingen den Gegner in Deckung. Erst wenn dieser Druck aufgebaut ist, geht die Infanterie zum Sturm über.
Das lässt unter anderem den Schluss zu, dass Panzer bei diesem Vorgehen eine andere Rolle spielen als bei traditionellen mechanisierten Vorstössen. Sie sind weniger Keil eines Durchbruchs als vielmehr bewegliche Plattformen, die gegnerische Stellungen aus nächster Nähe bekämpfen, feindliches Feuer auf sich ziehen und der Infanterie Schutz vor Splittern und indirektem Feuer bieten. So hätten es ihm ukrainische Frontoffiziere dargelegt, schreibt der Autor des Rusi-Papiers.
Wie Russland agiert
Auch die russischen Streitkräfte haben sich im Verlauf des Krieges angepasst. Wie die Ukrainer setzen sie auf Drohnen, elektronische Aufklärung und schnelles, präzises Feuer, halten zugleich aber an ihrer Grundphilosophie fest: Masse, Zermürbung, systemischer Druck.
Besonders typisch für die russische Vorgehensweise sind seit einiger Zeit kleine Infiltrationsteams, die zu Fuss oder auf Motorrädern meist nachts und improvisiert bis in die Nähe der ukrainischen Linien vordringen. Auch hierbei ist der Einsatz von Drohnen essenziell. Sie kreisen über den vordringenden Truppen, um ihre Bewegungen zu koordinieren und sie an die vordefinierten Positionen zu lotsen.
Von dort aus beobachten sie ukrainische Versorgungswege, melden Bewegungen und stören mit gezielten Angriffen auf Nachschubfahrzeuge und Verbindungspunkte die Fähigkeit der Ukrainer, ihre Linien zu stabilisieren. Gleichzeitig bereiten russische Kommandostellen den Einsatz von Artillerie, Gleitbomben und FPV-Drohnen vor.
Im Unterschied zum Vorgehen der Ukrainer, die auf begrenzte Räume und klar definierte Phasen setzen, wirkt das russische Modell weniger fein abgestimmt, dafür aber flächiger und zermürbender. Die Russen setzen auf Masse und setzen in grossem Umfang nach wie vor Infanterie ein, oft nur gering ausgebildete Soldaten, um ukrainische Stellungen zu testen, gegnerisches Feuer zu provozieren und Lücken aufzudecken. Die Überlebensrate dieser Soldaten ist niedrig.
Gleichzeitig zeigt sich eine wachsende Professionalisierung und Präzision in der russischen Feuerführung. Die Kombination aus Aufklärung durch Drohnen, elektronischer Zielerfassung und präziser Artillerie erlaubt es, ukrainische Ziele schnell zu bekämpfen sowie Luftverteidigung und Artillerie durch ständige Bedrohung auszuhöhlen.
Die Schnelligkeit, mit der in der Ukraine heute Ziele erkannt, bekämpft und vernichtet werden, hat es in der Kriegsgeschichte noch nicht gegeben. Russland nutzt effektiv moderne Technologien und baut zugleich auf die hohe Anzahl eigener Truppen und Waffen, die schiere Tiefe des eigenen Landes und die Fähigkeit, die eigene Industrie und die Gesellschaft auf Jahre hin im Kriegsmodus zu halten.
Was das für die Nato heisst
Artillerie, Luftverteidigung, elektronische Kampfführung und unbemannte Systeme müssen in Zukunft das Rückgrat jeder Streitkraft bilden, die in einem derart gesättigten Gefechtsraum wie in der Ukraine agieren muss. Ohne eine dichte Vernetzung von Sensoren, Waffen und Schutzsystemen bleibt kaum noch Raum für klassische Manöver mit Panzern, Schützenpanzern und Infanterie.
Andererseits legt der Krieg in der Ukraine nahe, dass ein Gegner, der bereit ist, hohe Verluste zu akzeptieren, und seine Industrie konsequent auf Kriegsproduktion ausrichtet, auch modern ausgerüsteten Armeen gefährlich werden kann. Für die Nato stellt sich die Frage, ob die eigenen industriellen Kapazitäten, Munitionsvorräte und Reparaturketten belastbar genug sind, um einen langen, hochintensiven Konflikt durchzuhalten.
Eine Abfangdrohne der ukrainischen Armee steht zum Start bereit.
Dominic Nahr / NZZ
In einigen Nato-Staaten sind inzwischen Anpassungen sichtbar. Grossbritannien erwägt, weniger auf schwere Panzerformationen als vielmehr auf verteilte, stark vernetzte Kräfte zu setzen. Osteuropäische Staaten investieren in Raketenartillerie und Flugabwehr, um die russische Feuerüberlegenheit zu kompensieren. Deutschland setzt nach wie vor auf starke Panzerkräfte, zugleich aber auch auf Digitalisierung, weit reichendes Präzisionsfeuer («deep fires») und präzise Artillerie.
Warum es dennoch anders kommen könnte
Dennoch könnte ein Krieg Russlands gegen die Nato ganz anders aussehen. Erstens verfügt die Nato über Luftangriffs- und Luftverteidigungssysteme, die die Ukraine nicht hat, zum Beispiel Stealth-Flugzeuge wie F-35, F-22 und B-2, eine effektive elektronische Kampfführung und Marschflugkörper wie Tomahawk, Taurus und Scalp. Damit könnte sie russische Luftverteidigungssysteme, Kommandoposten und logistische Knotenpunkte viel früher und systematischer ausschalten als die Ukrainer. Ein Gefechtsfeld, das im Donbass heute von Drohnen und Artillerieduellen geprägt ist, würde sich in einem Krieg gegen die Nato mutmasslich schnell in einen Luftraum verwandeln, in dem Russland defensiv reagieren müsste.
Zweitens übt die Nato schon lange gemeinsame Operationen, standardisierte Verfahren und die Integration von Land-, Luft-, See-, Cyber- und Weltraumkräften. Ein Gegner wie die Nato, der über vernetzte Gefechtsführung in Echtzeit verfügt, stellt Russland vor ganz andere Herausforderungen als eine einzelne, ressourcenbeschränkte Armee wie die ukrainische.
Drittens verfügt die Nato über weit grössere wirtschaftliche Ressourcen als Russland. Entscheidend wird sein, dass sie dieses Potenzial im Kriegsfall auch nutzt. Derzeit ist das nicht der Fall, während Russland seine Industrie auf Kriegsmodus umgestellt hat und Munition, Drohnen und gepanzerte Fahrzeuge bereits in hoher Stückzahl produziert.
Viertens würde sich der operative Raum mutmasslich vollständig verändern. Ein Krieg zwischen Russland und der Nato wäre kein statischer Stellungskrieg an einer schmalen Linie wie in der Ukraine, sondern ein Grosskonflikt mit gleichzeitigen See-, Luft- und Bodenoperationen auf mehreren tausend Kilometern Front. Tiefe Schläge auf Infrastruktur, Cyberoperationen, Spezialkräfte und ein unablässiger Druck auf russische Führungs- und Logistikstrukturen würden das Gefechtsbild prägen.
Ein Nato-Russland-Krieg sähe mutmasslich also anders aus. Der Krieg in der Ukraine ist keine Vorlage, bleibt aber der wichtigste Hinweis darauf, was Kriegsführung heute bedeutet.