Die geplante Bürgergeld-Reform und der Umbau zur „Neuen Grundsicherung“ von Union und SPD entfacht eine breite Debatte über verschärfte Bürgergeld-Sanktionen, den Umgang mit neu eingereisten Ukraine-Geflüchteten und die Frage, ob einzelne Maßnahmen sogar verfassungswidrig sein könnten. Sozialverbände, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Juristinnen und Juristen sehen zentrale Punkte der Reform kritisch – teils mit deutlichen Worten.

Bürgergeld-Reform in der Kritik: Sind die geplanten Änderungen verfassungswidrig?

Die Welt berichtet mit Verweis auf dpa und AFP, dass ein Bündnis aus Diakonie, AWO und Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) die geplanten Bürgergeld-Reformen scharf angreift. In einem gemeinsamen Appell heißt es, dass die Bundesregierung „auf Ausgrenzung und Sozialabbau“ setze und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährde. Besonders der geplante Ausschluss neu eingereister Ukrainer vom Bürgergeld sei hochproblematisch.

Noch deutlicher formuliert es der Wuppertaler Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles. Vereinsvorsitzender Harald Thomé kritisiert laut Welt, die Reform enthalte „Regelungen, die in Teilen härter ausfallen als die Hartz-IV-Sanktionspraxis vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts“ – und bewertet vor allem die vollständige Streichung des Bürgergelds bei dreimaligem Terminversäumnis als „eindeutig verfassungswidrig.“ Thomé warnte zudem, die neuen Sanktionen zielten „allein auf Abschreckung“ und gefährdeten die Existenz vulnerabler Gruppen wie wohnungsloser und psychisch erkrankter Menschen.

Bürgergeld-Reform: Sind diese Sanktionen überhaupt rechtens?

In einem Beitrag des Legal Tribune analysiert Prof. Dr. Gerhard Kilz – er lehrt unter anderem Sozial- und Verwaltungsrecht an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Paderborn – die Reform aus Sicht des Verfassungs- und Sozialrechts. Grundlage ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (Az. 1 BvL 7/16), in der das Gericht das soziokulturelle Existenzminimum als unantastbar definierte.

Die zentrale Leitlinie: Sanktionen sind nicht ausgeschlossen, aber sie müssen verhältnismäßig sein. Laut der Einschätzung von Kilz hält das Bundesverfassungsgericht Kürzungen bis 30 Prozent für zulässig. Ab 60 Prozent bestehen jedoch „Zweifel an der Geeignetheit und Erforderlichkeit“. Und ein vollständiger Leistungswegfall ist nur in eng begrenzten Fällen zulässig, nämlich wenn Betroffene „bewusst eine konkrete und auch zumutbare Möglichkeit zur existenzsichernden Einkommenserzielung nicht nutzen.“

Die geplanten Sanktionen der Reform sehen hingegen im Kern Folgendes vor:

  • 30-Prozent-Kürzung bereits bei der ersten Pflichtverletzung
  • vollständiger Wegfall des Regelbedarfs bei dem dritten Terminversäumnis
  • vollständige Einstellung der Leistung, wenn ein weiterer Folgetermin nicht wahrgenommen wird

Die juristische Bewertung dazu fällt kritisch aus: Ob diese Art der Bürgergeld-Sanktion verfassungsrechtlich Bestand hat, ist offen. Der Autor schreibt, dass insbesondere die Ausweitung der Sanktionen „eine deutliche Verschärfung“ bedeute und eine „gerichtliche Überprüfung der Sanktionen zu erwarten“ sei.

Neue Bürgergeld-Regelungen im Grenzbereich des Verfassungsgerichts

Auch der Wegfall der Karenzzeit bei Miete und Vermögen könne erhebliche Folgen haben. Leistungsberechtigte müssen sich künftig deutlich früher um eine kostengünstigere Unterkunft bemühen und auf eigenes Vermögen zugreifen. Gegenüber der Welt warnte der Sozialhilfeverein Tacheles, dass die reduzierte Vermögensgrenze „erhebliche Einschränkungen bei der privaten Altersvorsorge“ mit sich bringe.

Zusammenfassend: Während Sozialverbände die Reform als sozialpolitischen Rückschritt bezeichnen, zeigt die juristische Analyse: Die Frage der Verfassungsmäßigkeit entscheidet sich an der Grenze zwischen Motivation und Abschreckung. Mehrere zentrale Elemente der Reform – insbesondere die verschärften Bürgergeld-Sanktionen bis zum vollständigen Leistungswegfall – bewegen sich deutlich im Grenzbereich dessen, was das Bundesverfassungsgericht 2019 als zulässig eingestuft hat. Kilz fasste im Legal Tribune zusammen: „Abzuwarten bleibt hier, ob diese am Ende einer gerichtlichen Überprüfung standhalten werden.“

Die Bundesregierung hält trotz der Kritik an ihrer Reformlinie fest und verweist auf den politischen Kompromiss zwischen Kanzler Friedrich Merz (CDU) und Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD). Nach SZ-Informationen wurden zentrale Punkte des Gesetzentwurfs zuletzt nachverhandelt: Ältere Hilfebezieher sollen künftig deutlich mehr Schonvermögen behalten dürfen, während andere Regeln – etwa die Abschaffung des Schlichtungsverfahrens und die schärfere Auslegung von Mitwirkungspflichten – strenger gefasst wurden.

Die Einsparungen durch die Bürgergeld-Reformen fallen hingegen weit geringer aus als von Merz im Wahlkampf versprochen: Laut Gesetzentwurf bewegen sie sich im zweistelligen Millionenbereich, in den Folgejahren sind sogar Mehrkosten möglich. Trotz Widerstands aus der SPD-Basis plant die Regierung laut SZ-Bericht, die Reform am 10. Dezember im Kabinett zu beschließen – in Kraft treten soll sie zum 1. Juli 2026.

  • Ann-Katrin Hahner

    Icon Haken im Kreis gesetzt

    Icon Plus im Kreis

  • Bundesverfassungsgericht

    Icon Haken im Kreis gesetzt

    Icon Plus im Kreis

  • SPD

    Icon Haken im Kreis gesetzt

    Icon Plus im Kreis