SWR Aktuell: Was versteht man unter dem Begriff Catcalling?
Sabine Wollstädter: Unter dem Begriff werden unerwünschte, meistens auch sexuell bestimmte Bemerkungen bezeichnet. Das können Rufe oder Annäherungen sein, die meistens auf der Straße oder im öffentlichen Raum gemacht werden. Dabei handelt es sich vorrangig um verbale Belästigungen, die auf das Geschlecht oder Aussehen der angesprochenen Person abzielen. Das kann sowas sein wie Hinterherrufen, Pfeifen, Kussgeräusche oder anzügliche Bemerkungen.
SWR Aktuell: Wer ist davon betroffen?
Sabine Wollstädter: Von Catcalling sind primär Frauen und Mädchen betroffen. Es können aber auch queere Personen betroffen sein.
SWR Aktuell: Was macht das mit Mädchen und Frauen?
Sabine Wollstädter: Sie empfinden Angst, Scham oder Wut. Aber viele empfinden auch ein Gefühl von Ohnmacht und Unsicherheit, also dass sie dann Angst haben, sich im öffentlichen Raum frei zu bewegen und überlegen, bestimmte Orte oder Wege nicht mehr zu gehen. Manche fühlen sich in ihrem Körper und ihrer Weiblichkeit entmündigt. Wiederholte Erfahrungen von Catcalling können das Selbstwertgefühl und das Körperbild, gerade bei jungen Frauen in der Selbstfindungsphase, beeinflussen.

Sabine Wollstädter arbeitet seit sechs Jahren beim Frauennotruf Mainz. Sie ist in der Präventionsarbeit und Beratung tätig.
SWR Aktuell: Was ist das Ziel von Catcalling?
Sabine Wollstädter: Den Männern geht es beim Catcalling um Machtausübung und Erniedrigung. Es geht ihnen nicht darum, einer Frau ein Kompliment zu geben. Respektvolles Hinterherpfeifen gibt es nicht. Catcalling ist immer ein Ausdruck von Machtverhältnissen.
SWR Aktuell: Sie haben auch mit Betroffenen zu tun, richtig?
Sabine Wollstädter: Genau, an uns wenden sich vor allem Frauen und Mädchen, die zwischen 12 und 35 Jahre alt sind. Wenn man das mit den vergangenen Jahren vergleicht, melden sich immer mehr Betroffene bei uns. Aber ich denke, das liegt auch daran, dass das Thema sichtbarer geworden ist.
SWR Aktuell: Können Sie mir einen Fall exemplarisch schildern?
Sabine Wollstädter: Wir haben eine anonymisierte Online-Beratung. Da haben junge Mädchen mit uns Kontakt aufgenommen. Die haben geschildert, dass eine Gruppe von Männern an ihnen vorbei gegangen ist und dann obszöne Gesten gemacht haben, unerwünschte sexuelle Bemerkungen, gepfiffen haben und ihnen nachgelaufen sind. Die Mädchen haben den Ort dann verlassen und haben sich an uns gewandt, weil sie wissen wollten, was ihnen da gerade passiert ist, um dem Ganzen auch einen Namen zu geben. Und sie wollten wissen, ob man das der Polizei melden kann.
Catcalling: Wie ist die Rechtslage?
Catcalling ist eine Form der sexuellen Belästigung – allerdings nur verbal, beispielsweise durch Hinterherrufen oder auch Hinterherpfeifen. Strafbar sind aber aktuell nur sexuelle Belästigungen, bei denen es zu Körperkontakt kommt. Und das ist beim Catcalling in der Regel gerade nicht der Fall, sodass es nicht als sexuelle Belästigung strafbar ist.
Was aber strafbar ist, sind Beleidigungen – und das sind meistens ja auch mündliche Beschimpfungen. Allerdings reicht laut aktueller Rechtsprechung sogenannter Alltagssexismus für eine strafbare Beleidigung nicht aus. Denn, so die Rechtsprechung, das Gesetz schütze nur die persönliche Ehre und nicht das reine Schamgefühl. Beim Catcalling gehe es aber eben laut Rechtsprechung vor allem um die Scham und deshalb ist es nicht strafbar.
Aktuell ist es also so: Wenn man jemanden zum Beispiel eine „dumme Kuh“ nennt oder einen Mittelfinger zeigt, kann das strafbar sein. Wenn aber jemandem etwas hinterhergerufen wird wie „Geiler Arsch, kann ich den mal nackt sehen?“, dann ist das aktuell nicht strafbar.
Quelle: ARD-Rechtsredaktion des SWR
SWR Aktuell: Wie können Mädchen und Frauen reagieren, wenn sie Catcalling erleben?
Sabine Wollstädter: Da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten und jede muss das für sich entscheiden. Sie können sich laut zur Wehr setzen oder die Person ignorieren oder sich von dem Ort entfernen. Jede Frau kann basierend auf ihrer Verfassung und ihrem Sicherheitsgefühl ihre Reaktion selbst wählen. Nach dem Vorfall rate ich Frauen und Mädchen, gut für sich zu sorgen oder sich unter Umständen Unterstützung zu holen, wie sich an eine Freundin zu wenden oder eben auch bei einer Fachberatungsstelle das Gespräch suchen.
SWR Aktuell: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Sabine Wollstädter: Ich würde mir wünschen, dass Catcalling Konsequenzen für die Täter hat und dass Catcalling strafbar ist. Es braucht eine konkrete gesetzliche Regelung, die Catcalling als ganz klare Form von sexueller Belästigung in der Öffentlichkeit definiert. Die Polizei muss in solchen Fällen geschult sein, um Frauen adäquat unterstützen zu können und ernst zu nehmen.
Die Schuld und Scham sollte die Seite wechseln.
SWR Aktuell: Und was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?
Sabine Wollstädter: Das Thema Catcalling muss ernster genommen werden. Es wird oft noch verharmlost, deswegen muss in der Gesellschaft ein Umdenken stattfinden. Jungen und Männer sollten für das Thema sensibilisiert werden in Form von Workshops und Schulungen. Weil häufig ist es so, dass sich Frauen und Mädchen, wenn sie Catcalling erleben, schuldig fühlen und sich schämen. Die Schuld und Scham sollte die Seite wechseln.