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So wie hier sieht es an vielen Stellen in den weitgehend verlassenen Braunkohledörfern aus. © Harald Oppitz/KNA
Gerettet nach jahrzehntelangem Kampf: Keyenberg und vier weitere Dörfer fallen nicht dem Braunkohletagebau zum Opfer. Doch was wird aus den weitgehend verwaisten Orten?
Erkelenz (KNA) Immer wieder dasselbe Bild: Ein Haus nach dem anderen mit ganz oder halb heruntergelassenen Jalousien. Manche Tür zugemauert. Aus den Bürgersteigfugen sprießt Unkraut und zeigt an, dass dort schon lange niemand mehr wohnt. Zwischen den verwaisten Gebäuden tanzt aber auch schon mal ein Objekt aus der Reihe. So schmücken Blumenkästen das Haus von Norbert Winzen und trotzen der Tristesse. Er gehört zu den rund 100 Bewohnern im rheinischen Revier, die sich nicht vom Tagebau vertreiben ließen – und unerwartet einen jahrzehntelangen Kampf gewonnen haben.
Winzen lebt in Keyenberg, einem jener fünf Dörfer, die dem Tagebau Garzweiler in Nordrhein-Westfalen weichen sollten. 2016 bekamen die Bewohner – auch die von Kuckum, Berverath sowie Ober- und Unterwestrich – den Umsiedlerstatus. Heißt: früher oder später Haus und Hof verlassen und woanders neu anfangen. Etwa im neuen Siedlungsgebiet wenige Kilometer weiter. Die meisten der rund 1.500 Bewohner handelten mit dem Energieunternehmen RWE Verträge für ein modernes gegen das alte Heim aus.
Rolle rückwärts beim Tagebau
Doch mit der Rolle rückwärts rechnete kaum jemand. Nach heftigen Protesten von Klimaaktivisten gab die Politik im September 2023 die Abbaupläne auf. Und es folgte der Jubelruf: Die Dörfer sind gerettet.
„Ich sage: Danke Aktivisten, ihr habt geholfen, unser Dorf zu retten“, blickt Winzen zurück. Er lebt im 1863 gebauten Winzenhof. Das Drängen des Energiekonzerns RWE auf Umsiedlung hat er als Psychodruck empfunden.
Mit der unerwarteten Kehrtwende bricht der 60-Jährige aber nun auch nicht in Euphorie aus. Denn auch das ist klar: Nichts wird mehr sein, wie es einmal war. Kaum einer der Umgesiedelten wird zurückkehren; nur eine Familie hat laut RWE ihr Anwesen zurückgekauft. Wie wird es weitergehen in Keyenberg?
„Kriegen wir den Hof gestemmt?“
Es klingt überraschend: Trotz erfolgreichen Kampfes schließt Winzen einen Wegzug nicht aus. Bis Juni 2026 hat er den Umsiedlerstatus – bis dahin muss RWE ihn bei einem Umzug entschädigen. Reserviert ist ein 1.000 Quadratmeter großes Grundstück – statt der 8.000 jetzt. Für Winzen, der mit Mutter, Schwester, Schwager und deren Kindern den Komplex bewohnt, lautet die Hauptfrage: „Kriegen wir den Hof gestemmt?“
Zwischenzeitlich vom Abriss bedroht, steht der nun wieder unter Denkmalschutz. Angesichts der anrückenden Bagger sei aber 25 Jahre lang nichts an dem Gebäude gemacht worden. Und ob die Sanierungskosten sich mit ihren Jobs tragen lassen? Winzen: „Ich bin schon fürs Bleiben, aber nicht um jeden Preis.“ Ein Riss gehe mitten durch die Familie: „Lass uns gehen“ sagten die einen, „weiterkämpfen“ die anderen.
Umsiedlung – „Keyenberg als Dorf ist zerstört“
So sehr sich Winzen auch für seine Heimat eingesetzt hat, so sehr ist ihm klar: „Keyenberg als Dorf ist zerstört.“ Dabei denkt er weniger an die Gebäude. Mit den Bewohnern zogen auch Sportverein, Schützenbruderschaft oder Kirchengruppen ins neue Siedlungsgebiet, in dem nun jeder der fünf Orte weiter als eigene Dorfgemeinschaft existiert, wenngleich sie nur noch eine Straße voneinander trennt.
Winzen trauert der Vergangenheit in den fünf Dörfern nicht nach, die zur Stadt Erkelenz gehören und vom Rat – zur Unterscheidung vom Neubaugebiet – die Vorsilbe „Alt“ verpasst bekommen haben. „Ich finde gut, wenn hier ein Neuanfang gestartet wird.“ Nach den früheren Dorfbewohnern sollen Einwohner und Beschäftigte aus Erkelenz die Chance bekommen, Immobilien zu erwerben, bevor dann auch andere zum Zuge kommen. Winzen rechnet damit, dass der Wohnungsmangel viele Menschen aus den nahen Großstädten wie Köln oder Düsseldorf in die alten Dörfer bewegt. Worin er eine Chance sieht.
Umstellung auf erneuerbare Energien
Aus dem milliardenschweren Topf von Bund und Land für die Region ließe sich ein modellhaftes und modernes Umfeld entwickeln – etwa die alten Häuser auf erneuerbare Energien umstellen. Mit der Dorfgemeinschaft Kultur-Energie setzt sich Winzen für eine Vision ein: den Charme des alten Dorflebens erhalten, dabei aber eine neue Infrastruktur mit verkehrsberuhigten Straßen, Läden, Schulen, Kitas und einem modernen Kulturangebot schaffen.
Auch Marita Dresen aus Kuckum und Dorothee Laumanns aus Berverath engagieren sich bei Kultur-Energie und hoffen darauf, dass ihre „schlafenden Dörfer“ zu neuem Leben erwachen. „Das Hippe aus der Stadt ins Dorf bringen“, blickt Laumanns nach vorn und träumt von sozialen Projekten wie einem Demenzdorf. Ihr gehört der Schwalbenhof in Berverath, wo das Café Nr 5 – die Zahl steht für die fünf Dörfer – eingerichtet wurde. Das von Umwelt- und überörtlichen Kirchengruppen getragene Café dient als Begegnungsort, um den Strukturwandel in den Blick zu nehmen.
Tagebau soll geflutet werden – Villen am See?
“Wichtig ist, dass Investoren keine ganzen Straßenzüge bekommen“, fordert Laumanns auch mit Blick auf das Vorhaben, das Tagebauloch mit Rheinwasser zu füllen. Villen reicher Leute am See – so etwas passe nicht zur traditionellen Dorfstruktur. Aber ob ihr Wunsch gehört wird? „Man hat das Gefühl, man wird nicht richtig mitgenommen“, meint Dresen. So ärgert sie sich, dass das neue Siedlungsgebiet nun die Originalnamen der Dörfer trägt, ohne die als Kompromiss vorgeschlagene Vorsilbe „Neu“. „Dadurch kommt kein sozialer Friede“, ergänzt Laumanns – und meint damit die Spannungen zwischen verbliebenen und umgezogenen Dorfbewohnern.
Artikel der KNA
Dieser Beitrag stammt von der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Zwischen beiden Seiten gibt es erhebliche Probleme, wie auch Hans-Josef Dederichs feststellt. Sein Haus in Alt-Kuckum hat er gegen einen energetisch optimierten Bau am neuen Standort getauscht. Er sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, das Dorf verraten zu haben und nur am eigenen Profit interessiert zu sein. Verletzungen hier und da. Von hier und da ist aber auch ein Wunsch zu vernehmen: den ganzen Prozess der Umsiedlung einmal mithilfe einer sozialpsychologischen Begleitung aufzuarbeiten.
„Wegen der Gemeinschaft gegangen“
In diesem Rahmen könnte Dederichs auch über seine Beweggründe sprechen: Statt sich im Widerstand gegen den damals fix erscheinenden Umsiedlungsbeschluss zu engagieren, wollte er seine Ideen ins neue Dorfkonzept einbringen. Denn Fehler wie bei der Umsiedlung von Borschemich und Immerath sollten sich nicht wiederholen. „Man kann nicht komplett dagegen sein und gleichzeitig mitgestalten.“ Dederichs freut sich, wenn sein altes Haus nun mehreren Generationen noch ein Dach bietet.
Ganz anders empfindet Gabi Clever. Sie und ihr Mann haben ihr früheres Haus selbst gebaut – und finden es unerträglich, dass dort demnächst jemand anderes wohnt. Ein Rückzug vom Umzug kommt für sie aber nicht infrage: „Wir sind wegen der Gemeinschaft gegangen.“ Die meisten Kuckumer seien umgesiedelt.
Kein Geld für Kirchenrückkauf am Tagebau
Spannung gibt es auch zwischen den verbliebenen Bewohnern und der örtlichen Pfarrei. Sie hat die Kirchen in Keyenberg und Kuckum und die Kapelle in Berverath verkauft und ein neues Zentrum am neuen Standort gebaut. Deshalb wird die Gemeinde an der Seite der Neusiedler wahrgenommen. Pfarrer Werner Rombach versteht sich aber als Seelsorger für alle und bedauert das.
Null Chancen sieht er indes, dass die Pfarrei die Gebäude zurückkauft. „Das Geld haben wir nicht.“ Die denkmalgeschützte Keyenberger Kirche habe überdies einen millionenschweren Sanierungsbedarf. Und angesichts rückläufiger Kirchenbesucher und schwindender Mittel habe die Pfarrei immer noch zu viele Gebäude.
Kritik, die Gemeinde habe die Glocken aus Keyenberg „geklaut“, weist Rombach zurück. Wenn sie am neuen Zentrum zum Gottesdienst läuteten, seien sie dort als Klangdenkmal doch viel besser aufgehoben. Die Wegkreuze aber sollten nun an ihren angestammten Plätzen verbleiben.
Internationale Bundesgartenschau rund um Braunkohlegebiet
Was mit den Kirchengebäuden passiert, ist also offen. Die Stadt arbeitet an Nutzungskonzepten. Marita Dresen kann sich in Kuckum ein Café vorstellen, in dem der Widerstand gegen den Tagebau erzählt wird. Allerorten sprießen Ideen, wie es weitergehen könnte. Norbert Winzen sieht nicht zuletzt mit Blick auf die geplante Internationale Bundesgartenschau im Jahr 2037 rund um das Braunkohlegebiet eine Finanzierungsquelle für den Hof der Familie: Auf dem hinteren Teil des Grundstücks wäre Platz für einen Wohnmobilpark.