Ein polnischer Grenzpfosten steht neben einem Hochsitz an der Suwalki-Lücke.

weltspiegel

Stand: 25.11.2025 11:34 Uhr

Die Gegend um das polnische Suwalki gilt als die größte Schwachstelle des NATO-Gebiets. Russland und Belarus könnten hier schnell durchstoßen und das Baltikum abtrennen. Doch die Bewohner der Stadt sehen das anders.


Ina Ruck

Auf dem zentralen Platz der hübschen Innenstadt blickt Polens Nationalheld Josef Piłsudski streng vom Denkmalssockel herab. Schräg gegenüber steht eine Muttergottes-Statue, und nicht weit davon entfernt ein Denkmal für Papst Johannes Paul II.: Suwalki ist eine typische polnische Provinzstadt.

Sie liegt im äußersten Nordosten des Landes, hat 70.000 Einwohner, kostenloses Wifi im Park, viele Konditoreien. Doch dass die Stadt weit über Polens Grenzen hinaus bekannt ist, liegt nicht an ihrer Beschaulichkeit – sondern an ihrer Lage.

Sieht man sich die auf der Karte an, so wirken Suwalki und das umgebende Gebiet wie eingeklemmt zwischen Russlands Exklave Kaliningrad im Nordwesten und Belarus im Osten: Die NATO nennt das die „Suwalki-Lücke“. Aus Sicht der Generäle ist dies ein höchst verwundbarer und schwer zu verteidigender Streifen Land. Denn an der engsten Stelle dieser politisch brisanten Landenge liegen nur 65 Kilometer zwischen den beiden Grenzen. Und mittendrin Suwalki.

Würden russische und belarusische Soldaten, so das Szenario, hier in einer Zangenbewegung von rechts und links angreifen, könnten sie das nördlich der Suwalki-Lücke gelegene Baltikum abtrennen von Polen – und damit von der gesamten restlichen NATO. Und bei der Gelegenheit auch gleich ein Stück Polen besetzen.

„Wir sind in der NATO, wir sind geschützt“

Auf dem Wochenmarkt von Suwalki sind sie eher genervt, wenn man nach der Stimmung oder gar nach Angst fragt. Nein, wieso Angst, sagen die Frauen am Eierstand: „Sie sehen doch, dass die Drohnen auch anderswo in Polen herunterkommen.“ Immer wieder fällt auch der Satz: „Wir sind in der NATO, wir sind geschützt.“

„Ich sehe doch ‚Apache‘-Hubschrauber in der Luft, das gibt Sicherheit“, sagt ein älterer Mann. Vor allem auf die US-Amerikaner setzt man hier, mit ihren Stützpunkten in Polen und dem Baltikum. Und: auf sich selbst.

Angst sei der falsche Begriff, findet auch der Sejm-Abgeordnete Jacek Niedzwiedzki, der hier in Suwalki seinen Wahlkreis hat. „Es geht um das Bewusstsein für die Gefahr, und das haben wir hier im Blut. Wir leben mit diesen Nachbarn unser ganzes Leben. Deswegen weinen wir nicht, das bringt nichts. Wir rüsten uns.“

Ein hoch gesicherter Ort

Polen steckt fast fünf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung. Rund um Suwalki kann man das sehen. Die Grenze zu Belarus ist mit einer meterhohen Metallwand und Hightech-Absperrungen bewehrt. Die zu Kaliningrad wird gerade auf breiter Fläche in einer großangelegten Sicherungsaktion mit Panzersperren, hohen Zäunen und potentiellen Minenfeldern abgeriegelt.

Polen ist bereits im Sommer aus dem Ottawa-Abkommen zum Verbot von Landminen ausgetreten, um seine Grenzen im Norden und Osten im Ernstfall verminen zu können. Zwar sind noch nicht viel mehr als 20 Kilometer der neuen Grenzsicherung zu Kaliningrad fertig. Aber der Plan steht.

Geld gibt es auch für den Zivilschutz. So viel, dass Joanna Ras, Bürgermeisterin der Landgemeinde Sejny im Gebiet von Suwalki direkt an der Grenze zu Belarus, jetzt in großem Stil einkauft: Wassertanks, Notstromaggregate, Lebensmittelvorräte. Sollte die Infrastruktur gestört werden, muss ihre Gemeindeverwaltung 4.000 Menschen versorgen können.

Ras hat gerade auch Verträge für ein neues großes Lagerhaus abgeschlossen, die Fotos der neuen Wasserzisterne hat sie auf dem Handy. „Es gibt dieses Sprichwort: Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Ich finde, so etwas muss man ganz in Ruhe machen, ohne Panik zu schüren. Man darf sich nicht von diesen ganzen Bedrohungs-Unkereien verunsichern lassen. Die Leute wissen, dass ich mich kümmere.“

Dass die Russen bei Suwalki angreifen könnten, hält sie für sehr unwahrscheinlich. Es sei auch nicht der gefährlichste Ort Polens, sondern eher der am besten geschützte, lacht sie. So viele Soldaten wie hier an der Grenze gebe es nirgendwo sonst.

Investoren bleiben aus – und Touristen

Wer sich davon bislang wenig überzeugen lässt, sind Investoren. Im Rahmen des Entwicklungsprogramms für strukturschwache Gebiete hat Polen Joanna Ras‘ Gemeinde Sejny ein perfekt erschlossenes Investitionsgebiet hingestellt: Auf einem großen Feld sind Anschlüsse gelegt, Zufahrtswege asphaltiert, Straßenbeleuchtung aufgestellt.

Bis Jahresende müssen Unternehmen gefunden werden, die hier mit großen Steuervergünstigungen etwas aufbauen wollen, sonst muss die Gemeinde Geld für den Ausbau zurückerstatten. Doch das Feld ist gähnend leer. Nebenan, auf der ebenfalls geförderten Investitionsfläche der Gebietshauptstadt Suwalki, haben sich einige Investoren gefunden. Doch nach Sejny, noch näher an der Grenze gelegen, traut sich niemand.

Auch mit dem Tourismus sieht es schlecht aus. Beim Treffen der Landfrauen von Sejny und Umgebung basteln sie Kränze für Weihnachten, auch Ras ist dabei. Landwirtschaft ist der Haupterwerbszweig hier, doch immer mehr Höfe hätten auch Zimmer angeboten, Ferien auf dem Bauernhof, erzählen uns die Frauen hier.

Doch seit Russlands Angriff auf die Ukraine seien immer weniger Familien gekommen. „Sie lesen etwas über die Gegend, finden den Begriff Suwalki-Lücke und bekommen Angst. Ich hasse den Begriff mittlerweile“, sagt Ras.

„Gefährlich ist es auch anderswo“

Gefährlich sei es doch längst auch anderswo in Polen, so Ras. Tatsächlich ist Polen seit Monaten zunehmend hybriden Attacken ausgesetzt, nicht nur an seinen Grenzen.

Jüngst gab es einen Anschlag auf eine wichtige Eisenbahnstrecke, über die viele Rüstungsgüter in die Ukraine transportiert werden. In Warschau glaubt man die Hintermänner in Russland.

Polens Regierungschef Tusk spricht längst von „russischem Staatsterrorismus“: Mit immer neuen hybriden Angriffen versuche Russland, die Grundlagen des polnischen Staats zu zerstören.