Kiel. Fernab einer großen Öffentlichkeit, in einem kleinen Saal am Amtsgericht in Kiel ist etwas passiert, dass Drogenprozesse auf der ganzen Welt ins Wanken bringen und abgeschlossene Verfahren wieder zum Leben erwecken könnte. Erstmals sind Dokumente als Beweismittel in einen Prozess eingeführt worden, die belegen sollen, dass eine FBI-Operation, die Tausende Drogenhändler in die Falle lockte, nur durch einen großen Schwindel möglich war.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Im Kern geht es dabei um den Krypto-Messengerdienst Anom, mit dem Kriminelle vermeintlich verschlüsselt kommunizierten und ihre Geschäfte abwickelten. Was sie nicht wussten: Anom war vom FBI selbst entwickelt und in der Unterwelt unter die Leute gebracht worden. Die Ermittlerinnen und Ermittler der amerikanischen Bundespolizei lasen alle Nachrichten mit.

Die Kryptohandys mit dem Messengerdienst Anom verbreitete das FBI selbst in der kriminellen Unterwelt.

Als sie und andere Strafverfolgungsbehörden im Rahmen der Operation „Trojanerschild“ Anfang 2021 zuschlagen, kommt es zu 800 Festnahmen in 16 Ländern. Nach Angaben der Behörden wurden unter anderem acht Tonnen Kokain, 22 Tonnen Cannabis und Cannabisharz, sechs Tonnen synthetische Drogengrundstoffe, 250 Schusswaffen und mehr als 48 Millionen Dollar in Bar- und Kryptogeld verschiedener Währungen beschlagnahmt. Ermittlungsverfahren, Anklagen und Verurteilungen auf der ganzen Welt waren die Folge.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Doch mit dem Drogen-Prozess am Amtsgericht Kiel ist die Anom-Geschichte um ein Kapitel reicher. Und dieses könnte eine spektakuläre Wendung bedeuten – die man auf den ersten Blick nicht erahnt.

Denn verhandelt wird nicht vor einer großen Strafkammer mit drei Berufsrichtern, sondern vor einem Jugendschöffengericht mit einer hauptamtlichen Richterin und zwei Schöffen. Angeklagt ist ein mittlerweile 25-Jähriger, Mitglied einer bekannten arabischen Großfamilie, der von Januar bis Juni 2021 in Kiel und Hamburg in 24 Fällen mit Cannabis und in fünf Fällen mit Kokain in nicht geringer Menge gehandelt haben soll.

Prozess in Kiel: Es geht um 72,5 Kilo Cannabis und 3,2 Kilo Kokain

Insgesamt sollen es laut Anklage 72,5 Kilogramm Cannabis – Kaufpreis pro Kilo zwischen 4700 und 5800 Euro – und 3,2 Kilogramm Kokain (33.000 Euro pro Kilo) gewesen sein. Gegen den Mann läuft auch am Landgericht Hamburg ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Konsumcannabisgesetz.

In Kiel war bereits im Juni 2023 Anklage gegen ihn erhoben worden. Zunächst liegt das Verfahren beim Landgericht Kiel. Doch kurz bevor der Angeklagte nach sechs Monaten wegen zu langer Verfahrensdauer aus der Untersuchungshaft entlassen werden müsste, eröffnet man den Fall nach unten. Das Landgericht gibt die Zuständigkeit an das Amtsgericht ab. Angesichts der möglichen Tragweite des Falls wirkt diese Entscheidung rückblickend absurd.

Aus der U-Haft wird der Angeklagte nach einer Haftbeschwerde dennoch entlassen, weil es so kurzfristig nicht zu einem Prozess kommen kann. Schließlich startet die Verhandlung am Amtsgericht in Kiel gegen den 25-Jährigen am 20. Oktober. Der entscheidende Mann im Gerichtssaal ist aber nicht der Angeklagte, sondern einer seiner Verteidiger.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Ich bin um die halbe Welt geflogen, um an diese Dokumente zu kommen.

Christian Lödden

Rechtsanwalt

Christian Lödden, Rechtsanwalt aus Köln, ist ein Experte für Verfahren mit Krypto-Handys. Und vor allem: Er ist im Besitz der Dokumente, die den Schwindel des FBI dokumentieren sollen. „Ich bin um die halbe Welt geflogen, um an diese Dokumente zu kommen“, sagt Lödden. Nun kämen Kollegen aus diversen Ländern zu ihm, um sie in ihren Prozessen zu nutzen.

Die Geheim-Aktion Anom des FBI hat auch Folgen in Kiel

„Sonst hatte niemand die Dokumente. Ich habe sie im vergangenen September zugespielt bekommen.“ In Kiel seien sie zum ersten Mal in einer Hauptverhandlung als Beweismittel verlesen und eingeführt worden, sagt Lödden. Es ist Zufall, aber für ihn schließt sich ein kleiner Kreis. Der Strafverteidiger hat von 2004 bis 2010 in Kiel Jura studiert.

Über die Existenz der Dokumente berichtet und ihre Authentizität geprüft hatte zuerst die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Die Recherche wurde Ende September veröffentlicht. Unabhängig davon entschied das Bundesverfassungsgericht zwei Tage danach, dass Chat-Nachrichten aus dem Kryptodienst Anom als Beweismittel zulässig sind.

Bei Durchsuchungen im Rahmen der FBI-Operation Trojanerschild im Jahr 2021 wurden 22 Tonnen Cannabis und Cannabisharz beschlagnahmt (Symbolbild).

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Nach Ansicht von Lödden habe das Gericht hier aber über eine andere Rechtsfrage entschieden. Aus seinen Dokumenten gehe der komplette E-Mail-Verkehr zwischen dem FBI und der Polizei in Litauen hervor. Warum Litauen?

Für die Anom-Aktion bekam das FBI in den USA keinen richterlichen Beschluss für das Empfangen und Kopieren der Daten. Also machte man sich im Ausland auf die Suche. Dabei tritt das FBI auch mit litauischen Behörden in Kontakt.

Aus der schriftlichen Kommunikation gehe hervor, dass Amerikaner und Litauer sich darüber austauschen, wie das FBI ein Rechtshilfeersuchen formulieren soll, damit man in Litauen einen richterlichen Beschluss bekommt. Laut Rechtsanwalt Lödden wollen die Amerikaner am Anfang ehrlich schreiben, sie hätten selbst einen Krypto-Messenger entwickelt und ihn unter Kriminellen verbreitet.

Das FBI hat eine Legende geschaffen. Und so hat man von der litauischen Justiz einen richterlichen Beschluss bekommen.

Christian Lödden

Rechtsanwalt

Die litauische Polizei soll in ihrer Antwort davon abgeraten haben. Daraufhin ändert die amerikanische Bundespolizei ihre Erzählung. „Das FBI hat eine Legende geschaffen, wonach eine kriminelle Organisation einen Krypto-Messengerdienst aus Litauen heraus betreibt“, berichtet Lödden.

„Und so hat man von der litauischen Justiz einen richterlichen Beschluss bekommen, den entsprechenden Server heimlich anzapfen zu dürfen.“ Doch diesen Server gab es zum Zeitpunkt des Beschlusses offenbar noch gar nicht. „Den hat man erst in Litauen aufgestellt, und die Anom-Kommunikation darüber laufen lassen, als man den Beschluss hatte“, so der Kölner Rechtsanwalt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Anom: Sind die Entscheidungen von BGH und Bundesverfassungsgericht überholt?

Die Verwertung von Anom-Nachrichten in Gerichtsverhandlungen war seitens Verteidigern von Anfang an kritisiert worden. Von amerikanischer Seite wurde das Land, in dem der Server zum Kopieren der Anom-Chats stand, geheim gehalten. Es hieß lediglich, der Server stehe seit Sommer 2019 in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, der richterliche Beschluss zum Kopieren der Nachrichten sei im Oktober 2019 ergangen.

Der Bundesgerichtshof (BGH) entschied Anfang des Jahres, dass die Daten in Deutschland verwertbar seien, das Bundesverfassungsgericht folgte mit seiner Entscheidung Anfang Oktober. In der Recherche der FAZ äußert sich Matthias Jahn, Professor für Strafrecht an der Goethe-Universität und Richter am Oberlandesgericht Frankfurt, zur neuen Entwicklung.

Sollten die Rechercheergebnisse zutreffen, stürze die Argumentation des BGH in sich zusammen. Es sei denkbar, dass bereits abgeschlossene Strafverfahren wieder aufgenommen werden müssten, sagte Jahn. In Deutschland sind bislang etwa 300 Angeklagte auf Grundlage der Anom-Chats verurteilt worden, weitere Verfahren laufen noch.

Die allermeisten Fälle in Deutschland spielen in Hessen, doch es gab auch welche in Schleswig-Holstein. Am Landgericht in Kiel wurden im Januar 2023 zwei Männer (24, 30) zu Haftstrafen von drei Jahren und sechs Monaten sowie drei Jahren und neun Monaten verurteilt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Der Prozess am Amtsgericht in Kiel ist seit Mitte November zunächst ausgesetzt. Neben einer Übersetzung der Dokumente sind im Fall des 25-jährigen Angeklagten zusätzliche Nachermittlungen veranlasst worden. Er bleibt auf freiem Fuß. Gut möglich, dass es anderen bald auch so geht.

KN