Jeremy Corbyn stampft links von Labour die „Your Party“ aus dem Boden. Kann das Projekt zum Erfolg werden? Oder wird es im britischen Parteiensystem zerrieben?
Die Labour Party hat in ihrer Mehrheit einen Parteichef wie Jeremy Corbyn nie verkrafte
Foto: Leon Neal/gettyimages
Weniger als eineinhalb Jahre nach ihrem Erdrutschsieg bei der Unterhauswahl könnte die Stimmung in der britischen Labour-Partei schlechter kaum sein. In den Umfragen stand die Regierungspartei zuletzt bei rund 20 Prozent und damit zwar weiterhin vor den schwächelnden Konservativen, aber deutlich hinter Nigel Farages rechtspopulistischer Reform-UK-Partei, die rund 30 Prozent erreicht.
Unter „blue-collar workers“ ist der Rückstand der einstigen Arbeiterpartei noch größer. Innerparteilich sind es die Sozialkürzungen, die restriktive Migrations- und Asylpolitik und der mangelnde Einsatz für Palästina, die für Unmut gesorgt haben. Auch wenn sich aktuell (noch) niemand aus der Deckung wagt, wäre es mehr als überraschend, wenn der Parteivorsitzende und Regierungschef Keir Starmer die Legislaturperiode ohne eine parteiinterne Herausforderung überstehen sollte. Und auch links von Labour tut sich was.
Im Juli hatte der ehemalige Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn, mittlerweile aus der Partei ausgeschlossen, zusammen mit der aus der Labour-Fraktion suspendierten Abgeordneten Zarah Sultana (der Freitag 29/2025) angekündigt, eine neue Partei gründen zu wollen. Unter dem vorläufigen Namen „Your Party“ haben sich seither lokale Parteiverbände formiert. Regionalkonferenzen wurden abgehalten. Kommunalpolitiker und einige fraktionslose Unterhausabgeordnete haben sich dem Projekt ebenfalls angeschlossen. Noch sind Programmatik, Parteistruktur und Führungspersonal weitgehend unklar. Dies soll sich beim Gründungsparteitag ändern, der am 29. und 30. November in Liverpool stattfindet.
Die Sehnsucht nach einer originär linken Partei ist groß. Mehr als 800.000 Personen haben sich als Interessierte registriert. Einer Umfrage im Sommer zufolge zeigte sich damals bis zu ein Viertel der Labour-Mitglieder prinzipiell offen für einen möglichen Parteiwechsel. Am Wochenende sollen nun über 10.000 per Losentscheid ausgewählte Delegierte die vielen offenen Fragen diskutieren. Die finalen Entscheidungen sollen später online von der gesamten Mitgliedschaft in einem One-member-one-vote-Abstimmungsverfahren getroffen werden. Das Problem dabei: Das Führungspersonal ist hoffnungslos zerstritten. Nach zuletzt heftigen Querelen ist nicht zu erwarten, dass am Wochenende alles reibungslos über die Bühne geht.
Auch die Grünen wachsen
Mittlerweile erhebt aber auch eine andere Partei Anspruch auf den verwaisten Platz auf der linken Seite des Parteienspektrums. Bei den letzten Unterhauswahlen errangen die Grünen aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts zwar trotz sieben Prozent der Wählerstimmen nur ganze vier Sitze, sie erreichten aber eine Rekordzahl von 39 zweiten Plätzen – alle in Wahlkreisen, die von Labour gewonnen wurden.
Seither hat die Partei mit Zack Polanski einen neuen charismatischen und öffentlichkeitswirksamen Vorsitzenden. Dieser hat die Grünen nicht nur deutlich klarer als zuvor links positioniert. Seine Medienauftritte haben eine bislang ungekannte Euphorie ausgelöst. Die Mitgliederzahlen haben sich auf 140.000 verdoppelt, darunter nicht wenige, die aufgrund der andauernden Streitereien „Your Party“ bereits enttäuscht den Rücken gekehrt haben. Meinungsumfragen sehen die Grünen gegenwärtig bei bis zu 15 Prozent und damit gar nicht weit von Labour entfernt.
Die aktuelle Bewegung links von Labour ist Symptom einer sich seit den 1970er Jahren abzeichnenden und kontinuierlich ausweitenden Fragmentierung des traditionellen britischen Zweiparteiensystems. Der Triumph von Labour vor gut einem Jahr war zu großen Teilen Konsequenz der Fragmentierung des rechten Parteienspektrums – der Konkurrenz zwischen den Konservativen und Reform UK. Mittlerweile sieht es immer mehr so aus, als habe Reform UK das Rennen gewonnen. Eine Rekonfiguration der Rechten unter Führung von Nigel Farage zeichnet sich ab. Warum sollte ein solcher Coup nicht auch auf der linken Seite gelingen?
Doch bei allem Enthusiasmus von „Your Party“ und den Grünen ist auch mit der Ablösung der regierenden Labour-Partei durch ein neues linkes Projekt nicht so schnell zu rechnen – noch dazu, wenn es sich eigentlich um zwei rivalisierende Projekte handelt. Tatsächlich bedeutet Labours beinahe perfekte Optimierung des Stimmen-Sitz-Verhältnisses bei der Unterhauswahl 2024 – mit lediglich einem Drittel der Stimmen konnten zwei Drittel der Parlamentssitze gewonnen werden –, dass bereits geringe Stimmenverluste zu gravierenden Mandatsverlusten führen.
An die beiden Kleinparteien links von Labour werden jedoch die wenigsten dieser Sitze gehen. Eine Pluralisierung des Parteienwettbewerbs bei Fortbestand des Mehrheitswahlrechts öffnet grundsätzlich dem Zufall Tür und Tor. Sie kann zu unklaren und instabilen Mehrheitsverhältnissen führen, aber auch zu riesigen Parlamentsmehrheiten auf der Basis eines geringen Stimmenvorsprungs. Legt man die aktuellen Umfragewerte zugrunde, dann würde vor allem Reform UK von der Mehrheitslogik des Wahlsystems profitieren und zur größten Fraktion werden.
Die sich andeutende Fragmentierung des linken Spektrums könnte gar zu einem Erdrutschsieg für Nigel Farage und seine Gefolgsleute führen. Was dies bedeuten würde, lässt sich mit einem Blick über den Atlantik leicht erkennen. Nur gut, dass die nächste Unterhauswahl noch in weiter Ferne liegt.
Klaus Stolz ist Professor für Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien an der TU Chemnitz
wenn der Parteivorsitzende und Regierungschef Keir Starmer die Legislaturperiode ohne eine parteiinterne Herausforderung überstehen sollte. Und auch links von Labour tut sich was.Im Juli hatte der ehemalige Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn, mittlerweile aus der Partei ausgeschlossen, zusammen mit der aus der Labour-Fraktion suspendierten Abgeordneten Zarah Sultana (der Freitag 29/2025) angekündigt, eine neue Partei gründen zu wollen. Unter dem vorläufigen Namen „Your Party“ haben sich seither lokale Parteiverbände formiert. Regionalkonferenzen wurden abgehalten. Kommunalpolitiker und einige fraktionslose Unterhausabgeordnete haben sich dem Projekt ebenfalls angeschlossen. Noch sind Programmatik, Parteistruktur und Führungspersonal weitgehend unklar. Dies soll sich beim Gründungsparteitag ändern, der am 29. und 30. November in Liverpool stattfindet.Die Sehnsucht nach einer originär linken Partei ist groß. Mehr als 800.000 Personen haben sich als Interessierte registriert. Einer Umfrage im Sommer zufolge zeigte sich damals bis zu ein Viertel der Labour-Mitglieder prinzipiell offen für einen möglichen Parteiwechsel. Am Wochenende sollen nun über 10.000 per Losentscheid ausgewählte Delegierte die vielen offenen Fragen diskutieren. Die finalen Entscheidungen sollen später online von der gesamten Mitgliedschaft in einem One-member-one-vote-Abstimmungsverfahren getroffen werden. Das Problem dabei: Das Führungspersonal ist hoffnungslos zerstritten. Nach zuletzt heftigen Querelen ist nicht zu erwarten, dass am Wochenende alles reibungslos über die Bühne geht.Auch die Grünen wachsenMittlerweile erhebt aber auch eine andere Partei Anspruch auf den verwaisten Platz auf der linken Seite des Parteienspektrums. Bei den letzten Unterhauswahlen errangen die Grünen aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts zwar trotz sieben Prozent der Wählerstimmen nur ganze vier Sitze, sie erreichten aber eine Rekordzahl von 39 zweiten Plätzen – alle in Wahlkreisen, die von Labour gewonnen wurden.Seither hat die Partei mit Zack Polanski einen neuen charismatischen und öffentlichkeitswirksamen Vorsitzenden. Dieser hat die Grünen nicht nur deutlich klarer als zuvor links positioniert. Seine Medienauftritte haben eine bislang ungekannte Euphorie ausgelöst. Die Mitgliederzahlen haben sich auf 140.000 verdoppelt, darunter nicht wenige, die aufgrund der andauernden Streitereien „Your Party“ bereits enttäuscht den Rücken gekehrt haben. Meinungsumfragen sehen die Grünen gegenwärtig bei bis zu 15 Prozent und damit gar nicht weit von Labour entfernt.Die aktuelle Bewegung links von Labour ist Symptom einer sich seit den 1970er Jahren abzeichnenden und kontinuierlich ausweitenden Fragmentierung des traditionellen britischen Zweiparteiensystems. Der Triumph von Labour vor gut einem Jahr war zu großen Teilen Konsequenz der Fragmentierung des rechten Parteienspektrums – der Konkurrenz zwischen den Konservativen und Reform UK. Mittlerweile sieht es immer mehr so aus, als habe Reform UK das Rennen gewonnen. Eine Rekonfiguration der Rechten unter Führung von Nigel Farage zeichnet sich ab. Warum sollte ein solcher Coup nicht auch auf der linken Seite gelingen?Doch bei allem Enthusiasmus von „Your Party“ und den Grünen ist auch mit der Ablösung der regierenden Labour-Partei durch ein neues linkes Projekt nicht so schnell zu rechnen – noch dazu, wenn es sich eigentlich um zwei rivalisierende Projekte handelt. Tatsächlich bedeutet Labours beinahe perfekte Optimierung des Stimmen-Sitz-Verhältnisses bei der Unterhauswahl 2024 – mit lediglich einem Drittel der Stimmen konnten zwei Drittel der Parlamentssitze gewonnen werden –, dass bereits geringe Stimmenverluste zu gravierenden Mandatsverlusten führen.An die beiden Kleinparteien links von Labour werden jedoch die wenigsten dieser Sitze gehen. Eine Pluralisierung des Parteienwettbewerbs bei Fortbestand des Mehrheitswahlrechts öffnet grundsätzlich dem Zufall Tür und Tor. Sie kann zu unklaren und instabilen Mehrheitsverhältnissen führen, aber auch zu riesigen Parlamentsmehrheiten auf der Basis eines geringen Stimmenvorsprungs. Legt man die aktuellen Umfragewerte zugrunde, dann würde vor allem Reform UK von der Mehrheitslogik des Wahlsystems profitieren und zur größten Fraktion werden.Die sich andeutende Fragmentierung des linken Spektrums könnte gar zu einem Erdrutschsieg für Nigel Farage und seine Gefolgsleute führen. Was dies bedeuten würde, lässt sich mit einem Blick über den Atlantik leicht erkennen. Nur gut, dass die nächste Unterhauswahl noch in weiter Ferne liegt.