Der Korruptionsskandal in der Ukraine zieht weitere Kreise: Ermittler der Anti-Korruptionsbehörden durchsuchten am Freitag die Wohnung von Andrij Jermak, dem engen Vertrauten und Büroleiter von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die Maßnahmen seien Teil laufender Ermittlungen, teilten das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) in Kiew mit, nannten aber zunächst keine Details. Ob es einen offiziellen Verdacht gegen Jermak gibt, der seinerseits volle Kooperationsbereitschaft erklärte, blieb offen.

Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Die innenpolitische Krise, die in der Ukraine vor wenigen Wochen mit der Bekanntgabe der sogenannten Operation „Midas“ um vermeintliche Korruptionsmachenschaften im Energiesektor eingeleitet wurde, geht damit weiter. Das Land wird von einem Schmiergeldskandal erschüttert, der bis in die Staatsführung reicht und bereits zwei Minister das Amt kostete. Die Bundesregierung erneuerte am Freitag die Erwartung, dass der Skandal vollständig aufgeklärt wird: „Wir nehmen das sehr ernst, das ist keine Kleinigkeit“, sagte ein Sprecher in Berlin.

Wolodymyr Selenskyj: Neue Ermittlungen sind für ihn ein schwerer Schlag

Für Selenskyj ist die neue Entwicklung ein schwerer Schlag. Denn der 54-jährige Jurist Jermak, seit 2020 im Amt, ist viel mehr als bloß sein Bürochef. Jermak ist zwar nicht der „Schattenpräsident“ hinter Selenskyj, als der er oft dargestellt wird. Er ist bekannt dafür, Selenskyjs Sichtweise umzusetzen, selbst wenn er anderer Meinung ist.

Aber von Jermak hängt deutlich mehr ab als die Gestaltung des Terminkalenders des Präsidenten. Innenpolitisch hat er enormen Einfluss auf die teils umstrittenen Personalentscheidungen und auch auf einige Sicherheitsorgane des Landes. Außerdem gilt Jermak als der eigentliche Chefdiplomat der Ukraine, in Konkurrenz zu Außenminister Andrij Sybiha.

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Ukraine: Die Durchsuchungen bei Jermak kommen zu ungünstiger Zeit

Schon zu Beginn von Selenskyjs Amtszeit 2019 fungierte er als außenpolitischer Berater des Präsidenten. Jermak war für die zähen Verhandlungen mit Russland verantwortlich. Zuletzt leitete er die hochkarätige ukrainische Delegation bei den ebenfalls schwierigen Gesprächen mit den US-Amerikanern in Genf – trotz der lauten Rufe der Opposition, aber auch von Teilen der Regierungspartei, die den Rauswurf Jermaks als den Weg aus der politischen Krise sehen. Die Durchsuchungen beim Kanzleichef kommen daher zu einem unglücklichen Zeitpunkt. Denn in Kürze wird erneut US-Heeresminister Dan Driscoll in Kiew erwartet.

Andrij Jermak

Andrij Jermak, Leiter des Präsidialamts der Ukraine: Vor wenigen Tagen führte der Vertraute von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Genf Gespräche mit US-Unterhändlern über den Friedensplan, am Freitag durchsuchten Anti-Korruptionsermittler seine Wohnung in Kiew.
© Martial Trezzini/KEYSTONE/dpa | Martial Trezzini

Dann ist auch ein weiterer Top-Verhandler auf ukrainischer Seite angeschlagen: Der frühere Verteidigungsminister und heutige Sekretär des Sicherheitsrates, Rustem Umerow, könnte ebenfalls in den Skandal verwickelt sein. Umerow, der beste Kontakte in den arabischen Raum pflegt, wurde diese Woche von der Anti-Korruptionsbehörde vorgeladen.

Mitten in den Gesprächen rund um den sogenannten Friedensplan der USA ist es zwar einerseits verständlich, dass Selenskyj an seinen wichtigsten Unterhändlern festhält. Es ist unklar, wie mit Jermak und Umerow zwei führende Figuren von heute auf morgen ersetzt werden sollen, die den Verhandlungsprozess von Beginn an gestalteten. Zu Jermaks eigentlichen diplomatischen Fähigkeiten gibt es in Kiew indes unterschiedliche Einschätzungen. Das aktuelle Team von US-Präsident Donald Trump dürfte mit seinen schlechten Englischkenntnissen unzufrieden sein, ist im Hintergrund zu hören. Selbst Jermaks größte Kritiker gestehen aber meist zu, dass er konkrete Ergebnisse auf den Tisch bringen kann.

Gepard im Einsatz

Jermak: Was wusste der Selenskyj-Vertraute von den Machenschaften?

Doch wie lange sich der Kanzleichef noch halten kann, ist eine offene Frage. Abgesehen von Jermaks eigener Verwicklung in der Korruptionsaffäre, die neben dem Energiesektor auch die Verteidigungsbranche stark betreffen könnte, ist es kaum vorstellbar, dass der 54-Jährige von den Machenschaften um den Geschäftsmann und einstigen engen Verbündeten Selenskyjs, Tymur Minditsch, nichts wusste. Daher wurde das Treffen Selenskyjs mit der eigenen Parlamentsfraktion letzte Woche mit Spannung erwartet. Ein kleiner Aufstand galt als nicht ausgeschlossen, zumal sich im Vorfeld zwei der prominenteren Abgeordneten öffentlich für die Entlassung Jermaks aussprachen.

Es folgte dann aber ein vergleichsweise ruhiger Termin, bei dem es nur zwei bis drei Fragen zu Jermak gab. Der Präsident soll betont haben, er habe mit Ministerrücktritten und etwa der Verhängung der Sanktionen gegen Minditsch vorerst hart genug reagiert. Sollte aber belastbares Material gegen andere Personen vorliegen, würde er ähnlich vorgehen. Als Kriegspräsident wird Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine nicht in Frage gestellt. Sein Machtsystem könnte sich aber radikal verändern, dürfte sich die Fraktion Selenskyjs zerfallen.

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Verfassungstechnisch handelt es sich bei der Ukraine um ein semipräsidentielles System, in dem Parlament und Regierung große Befugnisse haben. Die Einflusszonen des Präsidenten konzentrieren sich vor allem auf die Außen- und Verteidigungspolitik. Weil Selensykyjs Partei aber 2019 überraschend die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl holte, ballte sich die Macht im Präsidentenbüro, was mit der Verhängung des Kriegsrechts 2022 noch einmal verstärkt wurde. Die absolute Mehrheit der Selenskyj-Partei existiert sowieso seit Jahren nur auf dem Papier. Bis zuletzt war es aber kein Problem, mit Hilfe von anderen kleinen Abgeordnetengruppen wichtige Entscheidungen durchzusetzen. Genau dies könnte sich nun in absehbarer Zeit ändern.