Die Jury war sich einig: Aus den 29 Lebkuchenhäusern, die Architektenbüros aus Stuttgart bei einem Wettbewerb eingereicht hatten, gingen drei klare Sieger hervor. Sie alle eint eines.
Vielleicht ist es das beste Kriterium, das man bei der Bewertung eines Lebkuchenhauses anlegen kann: ob man selbst am liebsten darin leben würde. Der süßliche Geruch, der von allen 29 Lebkuchenhäuser ausgeht, den Stuttgarter Architekturbüros bei zweiten Lebkuchenhaus-Wettbewerb von Smow und USM eingereicht haben, mag einem dabei aber schon auch den Verstand vernebeln.
Damit es der Jury nicht so ergeht, wurden ihr knallharte Bewertungsrichtlinien an die Hand gegeben. Johanna Neves Pimenta, Chefredakteurin md Interior Design Architecture, Jürgen Laub, Designer von Jehs + Laub, Markus Kelzenberg, Geschäftsführer DGNB GmbH und und Raquel Jaureguízar, Projektleiterin bei der IBA’27, werden von Jörg Oetinger, Geschäftsführer von Smow, in die zauberhafte Welt der Lebkuchenhäuser eingeführt.
Lebkuchenhaus-Wettbewerb in Stuttgart: am wichtigsten ist die Idee
Das wichtigste Kriterium bei dem Wettbewerb ist die Idee, die hinter dem Entwurf steckt. Wie originell ist diese? Welche Story steckt dahinter? Danach folgt als zweites Kriterium die Kreativität: Wie viel Fantasie steckt in dem Lebkuchenhaus, welches Problem wird damit gelöst? Danach folgt die Qualität der Ausführung: Wie stabil ist die Lebkuchen-Konstruktion? Wie sind die Ausführungsarbeiten zu bewerten? Und auch die Nachhaltigkeit des Entwurfs zählt: Wurden nachhaltige Materialien verwendet? Hat die Idee einen nachhaltigen Hintergrund?
Die Jury hat’s vernommen und verinnerlicht, und macht sich auf den Rundgang entlang der 29 Lebkuchenhäuser. Da gibt es minimalistische Konstruktionen, pompöse Fantasiewelten und verspielte Stuttgart-Motive – den Architekten, die für die Jury noch geheim sind, war es weitestgehend frei gestellt, was sie bauen.
Da gibt es ein Haus, das nur aus dem Buchstaben H besteht: Viele aus Lebkuchen ausgeschnittene Hs, die wie Kinderspielzeug ineinander gesteckt werden können und somit ein Haus ergeben. Da gibt es einen Lebkuchenturm, der ein Mehr(chen)generationenhaus darstellt. Unten klopfen Hänsel und Gretel an die Tür, sie werden hereingebeten: „Schön, endlich bin ich nicht mehr allein.“ Auch Rotkäppchen und der Wolf sind zugegen, wie auch die sieben Zwerge – und oben hängt Rapunzel einladend ihr Haar zum Fenster heraus. Und auch den Stuttgarter Schlossplatz gibt es in Lebkuchen, samt Riesenrad, das sich sogar drehen lässt.
Die Jury beratschlagt sich – und schnell wird klar, dass man bei der Bewertung sehr dicht beieinander liegt. Es sind eine Handvoll an Häusern, die alle vier begeistern. Keine großen Diskussionen, keine Zwiste: „Wie soll man auch bei Lebkuchenduft streiten?“, fragt Johanna Neves Pimenta. Danach tippt freilich aber jeder einzeln seine Bewertungen ins iPad.
Schon treffen die ersten Wettbewerbsgäste ein – zumindest nach denen, die sich bei Smow in der Breitscheidstraße schon ihre Nasen an der Fensterscheibe eingedrückt haben –, und drängen sich um die zwei großen Tische mit den 29 Lebkuchenhäusern. Argwöhnisch werden die Konstrukte der Konkurrenz beäugt, dort geschnuppert, da überlegt, wie dieses Kunstwerk entstanden ist und wie jenes von der Statik her überhaupt stehen kann. Begleittexte der Architekturbüros helfen, den genauen Kontext nachzuvollziehen – einige Häuser versteht man nicht ohne diesen Text, andere sprechen sehr wohl für sich.
Es gibt viele Details zu bewundern. Foto: Lichtgut/Julian Rettig
Der dritte Platz geht an a+b freie Architekten. Ihr Entwurf ist sehr minimalistisch und konzeptionell – er zeigt kein Lebkuchenhaus im klassischen Sinne, er demontiert und zitiert es aber. Hier stehen quasi Lebkuchenhaus-Rahmen im Kreis, teils auf dem Dach, teils wie es sich gehört. „Leb ich?“ ist der Titel dieses Entwurfs. „Scharfe Cutter-Klingen fahren unablässig durch die weiche, nachgiebige Haut des Lebkuchens und zerschneiden es in Stücke.“ So geht es weiter, bis das Lebkuchenhaus erkennt: „Ein paar Häuser scheinen auf dem Dach, und dem Lebkuchen gefällt dieses Spiel mit der Schräge. Es weiß nun, dass das Leben manchmal ungewöhnliche Wege nimmt. Skulptural erhebt es sich in seiner kollektiven Gesamtform aus den Trümmern, sein Ableben ist vergessen.“ Der Schluss daraus: „Ich lebe.“
Das Gewinner-Lebkuchenhaus in Stuttgart
Die Nummer zwei der Rangliste führt das Atelier Kaiser Shen an – mit dem wohl kleinsten und auf den ersten Blick unscheinbarsten Lebkuchenhaus. Es ist rechteckig, trägt ein Satteldach mit Schornstein und hat wenige kleine Fenster. Das Besondere offenbart sich erst, wenn man in das Innere des Häuschens schaut, durch eines der Fenster. Dort ist eine Art Gang oder eher Höhle zu erkennen, uneben, rau, dunkel.
Dem Begleittext entnimmt man, dass diese Höhle dadurch entstand, dass aus den Lebkuchenplatten filigrane Haus-Silhouetten ausgeschnitten wurden. „Dabei wurde das Material optimal genutzt – ganz ohne Verschnitt, denn Lebensmittel sollten nicht verschwendet werden. Als Belohnung für die sorgfältige Arbeit durften alle genüsslich an dem kunstvoll gefertigten Häuschen knuspern.
Sonderpreis in Stuttgart
Manche verschlangen fast das ganze Häuschen, während andere schon nach einigen Bissen satt waren. Jede Platte wurde zum individuellen Zeugnis, das vom Gebiss und dem Hunger seiner Naschenden erzählt. Aneinandergereiht und mit Zuckerguss verbunden formen die einzelnen Schichten ein archaisches Häuschen.“
In den Gewinnerentwurf möchte vor allem der Juror Jürgen Laub am liebsten gleich einziehen – in die „wandernde Weihnachtsstätte“ von Auer Weber Architekten. „Diese Lebkuchen-Kathedrale taucht jedes Jahr an einem anderen Ort auf – immer dort, wo Menschen gemeinsam feiern wollen“, steht im Begleittext zu lesen. Das Haus hat wahrlich etwas Sakrales an sich, ist aber zugleich einfach gebaut und funktioniert über rechte Winkel. Es setzt sich aus 1200 Teilen zusammen, welche für die Menschen stehen, die die Gemeinschaft suchen. Diese Thematik zieht sich durch viele der Entwürfe hindurch wie eine rote, essbare Gummischnur.
Der Sonderpreis, ausgewählt von Smow, USM und Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten, ging an Scope Architekten. Das „Liebkuchenhaus“ ist außen komplett mit einer Hülle aus geschmolzenem Zucker ummantelt, als Ebenen dienen die Lebkuchenplatten und Zuckerstangen als Tragwerk. Sein Innerstes ist nur zu ergründen, indem man durch ein rundes Loch auf dem Dach ins Innere blickt, wo ein riesiger Weihnachtsbaum steht. „Im tiefen Winter stand inmitten einer kalten, einsamen Welt ein ganz besonderes Häuschen. Sein würziges Fundament aus Lebkuchen schenkt Halt, selbst wenn draußen alles kalt und schwer wirkt“, ist im Begleittext zu lesen. Auch hier spielt die Idee der Gemeinschaft eine tragende Rolle – neben den Zuckerstangen.
Die drei Gewinner eint alle ein Aspekt: Sie sind minimalistisch, ikonisch und eher schlicht denn überladen. Warum ist dem so – und haben farbenfrohe Wimmelhaus-Lebkuchenhäuser generell keine Chance bei dem Wettbewerb? „Die Idee wird ja am stärksten bewertet“, sagt die Jurorin Johanna Neves Pimenta. „Und die Gewinner greifen allesamt die Themen unserer Zeit auf.“ Dazu zählt für sie eben vor allem das Thema Nachhaltigkeit. „Architekten beschäftigen sich heute damit, wie viel wir heute noch bauen dürfen und wie wir besser bauen können – und das sieht man ganz deutlichen in diesen Lebkuchenhäusern.“ Alle 29 Lebkuchenhäuser zusammen ergeben indes ein Bild vom Bauen in all seiner historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Vielfältigkeit – gepaart mit viel süßer Fantasie.
Die Ausstellung bei Smow
Die Lebkuchenhäuser werden bei Smow noch bis zum 19. Dezember zu den regulären Öffnungszeiten in der Breitscheidstraße 10 ausgestellt.
Ausstellung im Stadtpalais
In diesem Jahr gibt es eine Kooperation mit dem Stuttgarter Stadtpalais. Das Stadtpalais hat einen eigenen Wettbewerb ausgeschrieben, an dem Nicht-Architekten teilnehmen sollen, um die Stadt Stuttgart nachzubauen. Die Schau „Winterwunder-Lebkuchenstadt“ ist vom 7. Dezember 2025 bis 11. Januar 2026 in der Galerie des Stadtpalais zu sehen. Dort werden zehn Nicht-Architekten-Lebkuchenhäuser und zehn Architekten-Lebkuchenhäuser zu sehen sein.