
AUDIO: NDR Buch des Monats: Jasmin Schreiber – „Da, wo ich dich sehen kann“ (4 Min)
Stand: 01.12.2025 06:00 Uhr
Jasmin Schreibers Bücher kreisen oft um Verlust und Trauer. In ihrem neuen Roman erzählt sie von einem Femizid und bezieht sich dabei auf einen realen Fall, der in ihrer Hamburger Nachbarschaft geschehen ist.
„Maya lebt mit ihren Eltern eigentlich ein ganz normales Leben“, erzählt Jasmin Schreiber. „Sie ist neun Jahre alt, und und kriegt mit, dass in der Familie so ein bisschen Spannung herrscht. Das entlädt sich dann in dem Moment, als der Vater die Mutter ermordet und Maya ihre Mutter findet. Ab dem Punkt ist alles anders, ihr ganzes Leben steht auf dem Kopf.“
Ein Mord zerreißt eine Kindheit
Schreiber setzt genau dort an: Maja schweigt, sie funktioniert, sie friert innerlich ein.
Sie freut sich nie, sie weint nie, sie wirkt nicht wütend, sie ist immer neutral und unkompliziert. Maja hat alles hingenommen: den Umzug, das neue Zuhause bei den Großeltern […] und den anstehenden Schulwechsel.
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Dass Kinder Schuld auf sich nehmen, obwohl sie keinerlei Verantwortung tragen, ist eines der zentralen Themen des Romans. „Maya hat das Problem, dass sie auch ganz starke Schuldgefühle hat. Das passiert oft bei Kindern, bei denen ein Elternteil das andere getötet hat (…); sie haben auch Angst, dass sie auch so werden. Ist mit mir was falsch? Darf ich den Papa noch liebhaben? Oder sie hassen den Täter, hassen dann auch sich, sind manchmal auch wütend auf das Opfer. Das sind sehr viele widerstreitende Gefühle, die sich dann ausbreiten. Und genau das Problem hat Maya auch.“

Deutschland im Jahr 2041: Das Land ächzt unter den Folgen des Klimawandels. Vor dieser Kulisse hat die Hamburger Autorin ihren Roman angelegt.
Die leise Eskalation
Der Roman öffnet den Blick aber weiter – auf alle, die nach so einer Tat in einem Trümmerfeld stehen. Eine seiner Stärken ist die Vielstimmigkeit: Neben Maja kommen die Großeltern zu Wort: ihre Patentante und in Rückblenden auch Majas Mutter Emma. Eine junge Frau, die in eine Beziehung rutscht, die erst nach Liebe aussieht und dann leise immer enger wird.
Sie selbst war erst einundzwanzig, und wenn sie ehrlich auf die Frage ihres Vaters antworten würde, würde sie Folgendes sagen müssen: Schrecklich fühlt es sich an, es überfordert mich, ich bin zu jung, ich habe Angst, dass ich das nicht hinkriege.
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Wie sich Gewalt einschleicht – und warum Frauen oft bleiben, – erklärt Schreiber so: „Häusliche Gewalt fängt ja nicht von heute auf morgen an, sondern das ist etwas, das sich entwickelt. In meinem Roman lasse ich den Täter auch so eine Art Abhängigkeitsbeziehung aufbauen. Man muss sich also selber vertrauen können in der eigenen Wahrnehmung. Es gibt auch Maya, und es ist oft so, dass Täter dann die Frauen unter Druck setzen mit den Kindern.“
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Warum Femizide oft unerkannt bleiben
Der Roman zeigt die Familie nach der Tat sehr eindringlich: ihre Wut, ihre Sprachlosigkeit, ihre Selbstvorwürfe. Zum Beispiel Emmas Mutter Brigitte:
Es ist ihr vermutlich immer normal vorgekommen, dass es Meldungen darüber gibt, wie Ehemänner ihre Frauen erstechen, erschießen, erwürgen, verbrennen, zerstückeln, in Säurefässern versenken. Jetzt, da sie endlich hinsieht, erschrickt sie nicht nur über die Häufigkeit, sondern über das Ausmaß der eigenen Blindheit.
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Ob True-Crime-Podcast oder Netflix-Serie – fast immer, findet Schreiber, steht der Täter oder Ermittler im Mittelpunkt, aber viel zu selten die Opfer und deren Angehörige. „80 Prozent der Femizidopfer sind Mütter. Das heißt, sie haben Kinder, sie haben wahrscheinlich Eltern, Arbeitskollegen, Freundinnen, Freunde. Es war mir wichtig, das zu zeigen, weil ich das Gefühl habe, dass das nicht sehr oft passiert.“
Momente von Hoffnung – trotz harter Kost
Der Roman findet starke Bilder für die Art Trauer, die bleibt:
Menschen hinterlassen mehr als Erinnerungen, sie hinterlassen Schwarze Löcher, die dich gnadenlos anziehen und in den Abgrund reißen, wenn du ihnen zu nahe kommst. Wenn jemand geht, fehlt nicht nur die Person, sondern auch ein Stück von jedem, der bleibt.
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„Da, wo ich dich sehen kann“ ist ein tief berührender, sehr klarer Roman über einen Femizid – aber gleichzeitig ein Buch über das Weiterleben. Es ist harte Kost und oft traurig, aber erstaunlich licht. Zwischen all dem Schmerz gibt es vorsichtige Momente von Nähe, Trost und Hoffnung.
Das NDR Buch des Monats im Programm
Die NDR Kultur Redaktionen von Radio, Fernsehen und Online wählen jeden Monat ein belletristisches Buch aus, das besonders gut zu Norddeutschland passt. NDR Kultur sendet die Rezension am 1. Dezember 2025 um 12.40 Uhr und NDR Info um 8 Uhr. Im Kulturjournal des NDR Fernsehens ist der Beitrag auch am 1. Dezember 2025 um 22.45 Uhr zu sehen.

Da, wo ich dich sehen kann
von Jasmin Schreiber
- Seitenzahl:
- 432 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Eichborn
- ISBN:
- 978-3-8479-0223-2
- Preis:
- 24 €
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