Anschuldigungen und Vorwürfe schwerer Straftaten setzen nicht selten eine toxische Dynamik in Gang, die das gesamte Umfeld der beschuldigten Person betrifft. Dabei spielt es oftmals zunächst keine Rolle, ob an den Behauptungen etwas dran ist – denn nur allzu schnell setzen Schubladendenken, Stigmatisierung und Vorverurteilungen ein. In Thomas Vinterbergs Drama „Die Jagd“ beginnt eine radikale Hexenjagd auf die Hauptfigur – unmittelbar, nachdem diese des sexuellen Übergriffs auf ein Mädchen beschuldigt wird.

Auch der männliche Protagonist in Sarah Miro Fischers Regiedebüt „Schwesterherz“ soll einer anderen Person sexuelle Gewalt angetan haben. Das Interessante an diesem Drama ist, dass Fischer sich zwischen den Zeilen zwar ebenso den Themen Voreingenommenheit und vorschnellen Meinungen widmet. Doch noch viel mehr richtet sie den Fokus auf die moralischen Dilemmata, die aufseiten der engsten Vertrauten der Beschuldigten entstehen – in diesem Fall bei der Schwester. Fischer gelingt mit ihrem „Geschwisterdrama“ so ein eigenwilliger, souverän inszenierter Erstling, der zwar nicht frei von einigen Drehbuchschwächen ist, die angesprochenen Themen aber vielschichtig und umfassend beleuchtet.

Das Verhältnis zwischen den Geschwistern Rose (Marie Bloching) und Sam (Anton Weil) wird erschüttert, als Vergewaltigungsvorwürfe gegen Sam erhoben werden.

Selma von Polheim Gravesen / DFFB

Das Verhältnis zwischen den Geschwistern Rose (Marie Bloching) und Sam (Anton Weil) wird erschüttert, als Vergewaltigungsvorwürfe gegen Sam erhoben werden.

Rose (Marie Bloching) und ihr älterer Bruder Sam (Anton Weil) sind unzertrennlich. Seit Rose sich von ihrer Freundin getrennt hat, wohnen die beiden vorübergehend zusammen. Doch ihr gutes Verhältnis gerät aus den Fugen, als Sam beschuldigt wird, eine Frau vergewaltigt zu haben. Im Zuge der Ermittlungen soll Rose gegen ihren eigenen Bruder aussagen. Die junge Frau ist hin- und hergerissen: Einerseits will sie Sam glauben, andererseits wachsen die Zweifel an seinen Aussagen. Die Ereignisse stellen die vertrauensvolle Beziehung der Zwei auf die Probe.

Sehr oft wähnt man sich in „Schwesterherz“ mehr in einem Dokumentar- als in einem Spielfilm. Das liegt an der aufmerksam beobachtenden Kamera, mit der Regisseurin Fischer von der ersten Minute an ihren Figuren, ja, man muss es so sagen, auf die Pelle rückt. Kamerafrau Selma von Polheim Gravesen ist stets dicht bei den Handelnden, allen voran beim im Mittelpunkt stehenden Geschwisterpaar. Wir sehen sie meist in ganz gewöhnlichen Momenten des Zusammenlebenslebens – beim Kochen, Abhängen, Zähneputzen und Haare föhnen, in Gesprächen oder auch mal beim Schwimmen im nahe gelegenen See.

Die Zweifel einer Schwester

Das mag zunächst etwas ereignis- oder gar belanglos klingen. Ist es aber nicht – denn es ist menschlich und eben alltäglich. Genau so entsteht Intimität. Die Menschen, denen wir auf der Leinwand zuschauen, erscheinen auf diese Weise als nahbare Charaktere mit Identifikationspotential. Die ungeschliffenen, authentischen Handkamerabilder sind Teil einer konzentrierten, durch und durch absichtsvollen Inszenierung, in der Fischer Mut für lange Einstellungen und minutenlange Dialogszenen aufbringt. Paradebeispiel hierfür: eine mitreißend gespielte Verhörszene zwischen Rose und einem Ermittler, in deren Verlauf sich die ganzen Ungewissheiten und Unsicherheiten der zweifelnden Schwester nach außen kehren.

Schauspielerisch ragt Marie Bloching als innerlich zerrissene Schwester heraus. Im Übergang zum zweiten Drittel (mit Aufkommen der Vergewaltigungsvorwürfe) wechseln Stimmung und Tonalität des Films – fast entwickelt sich „Schwesterherz“ zum Ein-Personen-Stück, in dem Bloching in beinahe jeder Szene zu sehen ist. Allmählich beginnt Rose, ihre eigenen „Wahrheiten“ und Glaubenssätzen infrage zu stellen. Die 29-jährige Bloching, die über viel Theatererfahrung verfügt, spielt all das sehr genau und mit großer Zärtlichkeit.

Marie Bloching trägt den Film ab dem zweiten Drittel fast allein.

Selma von Polheim Gravesen / DFFB

Marie Bloching trägt den Film ab dem zweiten Drittel fast allein.

Aufgrund der Tatsache, dass sich „Schwesterherz“ so sehr auf die Protagonistin und ihre Befindlichkeiten konzentriert, zeigt sich an anderer Stelle ein Problem. Es bleibt nämlich wenig Raum für die Nebenfiguren, die überhaupt eher als Staffage erscheinen. Von der Mutter über eine gute Bekannte der Geschwister bis hin zu Roses Ex-Freundin: Sie alle tauchen nur kurz auf und sind mehr Randerscheinung als ernstzunehmende, für die Handlung relevante Charaktere. Zudem ist es schade, dass Fischer einige interessante Aspekte nicht näher beleuchtet. Wieso genau besteht ein so großes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Sam und Rose? Woher rühren Sams emotionale Instabilität und die – subtil aufscheinenden – Rivalitäten zwischen dem Geschwisterpaar? All das bleibt vage und größtenteils der Interpretation des Zuschauers überlassen.

Doch trotz der komplexen Emotionen und der thematischen Schwere bleibt „Schwesterherz“ – und das ist eine weitere große Stärke – zurückhaltend, nüchtern und vor allem neutral. Fischer wertet zu keinem Zeitpunkt. Stattdessen blickt sie voller Empathie auf die Beteiligten sowie ganz ohne Sentimentalität oder künstliche Betroffenheit auf die Ereignisse. Zwischen Loyalität und einem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn schwankend, beweist Rose am Ende Standhaftigkeit und beachtlichen Mut. Darin zeigt sich dann schließlich auch eine der Kernbotschaften des Films. Denn „Schwesterherz“ lädt (ganz ohne moralischen Zeigefinger) dazu ein, Ereignisse immer ganzheitlich in Augenschein zu nehmen, also alle Seiten zu betrachten. Und: überlegt zu reflektieren, statt die eigenen Überzeugungen voreilig über Bord zu werfen.

Fazit: „Schwesterherz“ ist ein behutsam und nüchtern inszeniertes, konsequent aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur erzähltes Drama über eine komplexe Geschwisterbeziehung. Allerdings wäre eine sorgfältigere Ausarbeitung der Nebencharaktere wünschenswert gewesen.