Eine junge Frau mit langen Haaren und grauen Pullover sitzt vor einer Fensterfront.

Die Betroffene „Anna“ fordert mehr Unterstützung für Opfer sexueller Übergriffe.

Bild: Radio Bremen

Die Zahl der beim Weißen Ring gemeldeten Sexualdelikte steigt – sowohl bundesweit, als auch in Bremen. In vielen Fällen fällt kein Urteil. Was bedeutet das für Betroffene wie Anna?

Anna lernt den Mann, den sie im Sommer 2022 bei der Polizei anzeigt, schon als Kind kennen – über einen Verein, der auch in Bremen tätig ist. Sie kommt aus Nordrhein-Westfalen und heißt in Wirklichkeit anders. Um sich zu schützen, hat sie ein Pseudonym gewählt. Er fällt ihr direkt auf, kann gut mit Kindern und Jugendlichen umgehen, sagt die 18-Jährige heute. Aus gelegentlichen Treffen bei Events werden Ende Februar 2022 tägliche Nachrichten und lange Telefonate. Damals ist sie 15 Jahre alt. „Er hat sich sehr geschickt an mich rangemacht“, sagt Anna heute.

Der mutmaßliche Täter ist zu dem Zeitpunkt doppelt so alt wie Anna. Schnell freundet er sich nicht nur mit ihr an, sondern auch mit dem Rest der Familie, erzählt Anna.

Er war Vertrauter der Familie und gleichzeitig für mich so was wie ein großer Bruder, den ich nie hatte. 

Anna

Ab und an, wenn er auf der Durchreise ist, ist er zu Besuch bei ihrer Familie. An so einem Abend passiert es, erzählt Anna, im Juni 2022. Die beiden schauen Filme zusammen, bis die damals 15-Jährige ins Bett gehen will. Was dann folgt, beschreibt Anna so: Als sie sich ein Glas Wasser in der Küche holen will, bedrängt er sie und versucht mutmaßlich, sie zu vergewaltigen – auf Details möchte Anna nicht genauer eingehen. Sie wehrt sich zunächst, bis er schließlich von ihr ablässt.

Kontakt bricht ab

Was damals passiert ist, versteht Anna erst einmal nicht so richtig. Der Kontakt zum mutmaßlichen Täter flacht mit der Zeit immer weiter ab. Anna geht es psychisch nicht gut, sie schläft schlecht und nimmt alles wie durch einen Schleier wahr, schildert sie heute. Warum, weiß sie nicht genau – bis alles aus ihr herausbricht. Einige Wochen nach dem Vorfall wird ihr im Gespräch mit einer Bekannten klar, was passiert ist: „Für mich war das in meinem Kopf nicht möglich, dass jemand, der mir so nahesteht, mir so wehtun kann und mein Vertrauen so missbrauchen kann.“

Anna erzählt ihren Eltern davon. Sie gehen im August 2022 zur Polizei. Anna muss den Vorfall bis ins kleinste Detail beschreiben. Die Beamtin beschreibt Anna als sehr nett. Das Erlebte allerdings noch einmal zu erzählen, ist für Anna nicht einfach. 

Ich fand es unfassbar anstrengend und mir war schon klar, dass auf mir ein relativ großer Druck lastet, weil an meiner Aussage die erste Entscheidung hängt, wie weiter mit der erstatteten Anzeige verfahren wird.

Anna

Gutachterin wird hinzugezogen

Ein Akten-Ordner liegt geöffnet auf einem Tisch.

Der Aktenordner ist gut gefüllt – Anna muss der Gutachterin alles im Detail erzählen.

Bild: Radio Bremen

In dieser Zeit bekommt Anna viel Unterstützung von ihren Eltern. Sie kümmern sich um den Papierkram, sagt sie. Die Staatsanwaltschaft schlägt ihr ein Glaubhaftigkeitsgutachten vor. Oft werden diese von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht vorgeschlagen, vor allem, wenn in einem Prozess Aussage gegen Aussage steht. Bei diesem Gutachten soll Anna das Erlebte noch einmal bis ins kleinste Detail schildern, gegenüber einer Gutachterin. 

Und genau das tut sie – ein einschneidendes Erlebnis für Anna: „Die Gutachterin hat mich nochmal alles erzählen lassen. Sie hat auch immer wieder sehr ähnliche Fragen gestellt.“ Ähnlich wie bei der polizeilichen Befragung fühlt Anna Druck und Scham: „Mein Gefühl ist, dass häufig die Opfer in der Rolle sind, ihre Glaubwürdigkeit beweisen zu müssen.“ Annas Schilderung wird als nicht übermäßig glaubhaft beschieden – unter anderem, weil sie intellektuell in der Lage sei, sich einen derart komplexen Fall auszudenken. Ihrem Widerspruch gegen diese Entscheidung wird nicht stattgegeben. Wenig später bekommt Anna Post: Das Verfahren wird eingestellt.

Die 19-Jährige bleibt mit dem Gefühl zurück, dass ihr nicht geglaubt wird. Das belastet sie psychisch – ihr wird im Frühjahr 2025 eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, unter anderem in Folge des mutmaßlichen Übergriffs. Seit August 2025 ist sie in Therapie.

Gutachter prüfen, ob Aussage auf realem Erlebnis basiert

Andreas Schachermeier weiß, wie solche Gutachten funktionieren – mit Annas Fall hat er allerdings nichts zu tun. Er ist 56 Jahre alt und sowohl Fachpsychologe für Rechtspsychologie als auch im Bremer Institut für Gerichtspsychologie tätig.

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So arbeiten Gutachter

Gutachter arbeiten nach bestimmten Kriterien, an denen sie sich orientieren müssen. 1999 hat der Bundesgerichtshof Mindeststandards für die Glaubhaftigkeitsbeobachtung festgelegt. Demnach starten Gutachter mit der Nullhypothese – sie gehen also davon aus, dass die Aussage falsch ist. Dann wird geprüft, ob sich die Aussage durch andere Hinweise als falsch beweisen lässt. Werden diese widerlegt, gilt die Aussage als glaubwürdig. 

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Gutachter Andreas Schachermeier

Gutachter Andreas Schachermeier ist Fachpsychologe für Rechtspsychologie.

Bild: Radio Bremen

Gutachter werden von Gerichten oder Staatsanwaltschaften beauftragt, wenn in einem Fall Aussage gegen Aussage steht – wie bei Anna: „Das heißt, wenn keine physischen oder materiellen Beweise vorhanden sind, was häufig bei sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigungsfällen der Fall ist, werden wir beauftragt, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu untersuchen.“ Dabei geht es den Gutachtern darum, zu schauen, wie wahrscheinlich es ist, dass eine von einer Person getätigte Aussage auf einem realen Erlebnis basiert. Er analysiert die von den Betroffenen geschilderten Erinnerungen und ordnet sie ein. Diese Gutachten werden vor Gericht als Grundlage für eine Urteilsfindung genutzt. Eine Übersicht, wie viele Gutachten wie beschieden werden, gibt es nicht.

Die Wahrheit zu finden, ist nicht meine Aufgabe. Was am Ende tatsächlich vorgefallen ist, wissen immer nur die Personen, die dabei waren.

Andreas Schachermeier

Der Bremer Gerichtspsychologe wird auch in seinen Vernehmungen durchaus mit Scham konfrontiert: „Es ist ja auch eine sehr belastende Situation für Zeugen, über solche Dinge zu sprechen. Deswegen ist es besonders wichtig, eben eine entspannte Atmosphäre herzustellen und den Zeugen ernst zu nehmen und eben nicht das Gefühl zu geben, dass man ihnen nicht glaubt.“ Eine fachgerechte und vor allem offene Befragung sei umso wichtiger.  

Mehrfach-Befragungen können zum Problem werden

Viele würden sich irgendwann fragen, warum sie immer und immer wieder beschreiben müssen, was vorgefallen ist. Umso wichtiger sei es, mutmaßlich Betroffenen zu zeigen: „Es geht hier nicht darum, dass man ihnen nicht glaubt. Die Vernehmungen sollten soweit es geht reduziert werden.“ Denn: Je öfter jemand befragt wird, desto höher ist die Chance, dass die Aussagen nicht mehr übereinstimmen. 

Ein gutes Beispiel findet Schachermeier das Modell in der Schweiz. Dort sollten mutmaßlich Betroffene höchstens zwei Mal vernommen werden. Er sieht zudem eine Lösung in mehr Fortbildungen im Umgang mit mutmaßlich Betroffenen bei Vernehmungen – vor allem für Polizeibeamte. Oft mangelt es dort aber an Zeit: „Die meisten Behörden sind personell völlig überfordert, beziehungsweise haben zu wenig Personal. Das heißt, sie haben auch selten Zeit, an Fortbildungen teilzunehmen. Es wäre wünschenswert, dass sie mehr Zeit für Fortbildungen haben, aber auch, dass entsprechende Fortbildungsveranstaltungen angeboten werden.“

Anzeige zum Schutz anderer

Anna ist unsicher, ob sie den Täter wieder anzeigen würde, wenn sie vorher wüsste, welche Folgen das hätte: „Müsste ich das noch mal machen, dann einfach nur, damit es aktenkundig ist. Falls sich andere Opfer melden.“ Der mutmaßliche Täter in Annas Fall ist inzwischen verurteilt – in einem anderen Fall. Er wird wegen Kindesmissbrauchs zu anderthalb Jahren Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Für die Zukunft wünscht Anna sich bessere Hilfe für Betroffene: „Wir als Opfer sind immer in der Rolle der Geschädigten. Die Hilfe, die man erfährt, ist sehr begrenzt. Und wenn man welche haben will, dann muss man die sich sehr aktiv suchen.“ Auch vom Verein, bei dem der Kinder- und Jugendbetreuer tätig war, hat Anna sich mehr Rückhalt und eine echte Aufarbeitung gewünscht. Das habe es aber nicht gegeben, sagt sie.

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Hier finden Betroffene Hilfe

In Deutschland gibt es das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (116 016) und das Hilfe-Telefon „Sexueller Missbrauch“ (116 006). Weitere Unterstützung bietet auch der Weiße Ring an – sie können den Betroffenen unter anderem mit Rechtsberatung und finanzieller Unterstützung helfen. 

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Quelle:
buten un binnen.

Dieses Thema im Programm:
Bremen Zwei, Der Mittag, 1. Dezember 2025, 12.40 Uhr