
Wladimir Putin bei einem Gespräch mit russischen Journalist:innen in Bischkek, Kirgisistan.Bild: Pool Sputnik Kremlin / Alexei Nikolsky
International
Russland folgt einer außenpolitischen Strategie, die Chaos und militärische Stärke zum Prinzip erhebt. Die „Theorie des Chaos“ soll den Bruch internationaler Regeln rechtfertigen. Analyst Anton Barbashin warnt.
02.12.2025, 14:1402.12.2025, 14:14

Folgen
Die globale Sicherheitslage befindet sich im Umbruch. Internationale Institutionen verlieren an Einfluss, Konflikte breiten sich aus, und die Zahl der Staaten, die auf militärische Stärke statt Diplomatie setzen, wächst. Während Europa weiter um die Unterstützung der Ukraine ringt und die USA innenpolitisch geschwächt sind, verfolgt Russland eine langfristige Strategie zur Neuordnung der Weltpolitik.
Im Zentrum steht offenbar ein Konzept, das in westlichen Debatten bislang kaum Beachtung fand: die „Theorie des Chaos“, entwickelt von Expert:innen des Kreml-nahen Waldai-Klubs, ein internationaler Diskussions-Kreis, bei dem Journalist:innen, Politiker:innen, Expert:innen, Wissenschaftler:innen und Personen des öffentlichen Lebens zusammenkommen.
Der Politikanalyst Anton Barbashin hat diese Denkfigur für das Analyseprojekt Riddle untersucht. Das unabhängige russische Medium „Meduza“ veröffentlichte nun seine Analyse. Barbashin beschreibt darin, wie das Konzept als ideologische Grundlage dient, um Russlands außenpolitisches Handeln seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine zu legitimieren. Es passt erstaunlich gut zu dem, was Russland seit Jahren vermehrt tut.

Der Ukraine-Krieg hat das geopolitische Sicherheitsgefüge vieler Staaten verändert.Bild: Ukrainian 93rd Mechanized brigad / Iryna Rybakova
Was hinter der „Theorie des Chaos“ von Russland steckt
Nach Barbashins Darstellung gehen die Autor:innen der „Chaos-Theorie“ davon aus, dass die internationale Ordnung bereits zerfallen sei. Die frühere Struktur globaler Machtbeziehungen existiert demnach nicht mehr, eine neue sei bislang nicht entstanden.
Die Waldai-Expert:innen betonen, dass Stabilität und feste Regeln durch ein System ersetzt würden, das von Unsicherheit, Machtverschiebungen und schnellen Wendungen geprägt ist.
Demnach ist die Welt heute chaotisch und schnelllebig, bestimmt von ständigen Konflikten. Es gebe keine Möglichkeit, in den vorherigen Zustand zurückzukehren. Jede staatliche Handlung müsse sich künftig an kurzfristigen Vorteilen orientieren.
Barbashin erklärt laut „Meduza„, dass aus dieser Annahme ein Prinzip folgt: Staaten müssten flexibel handeln und Allianzen jederzeit brechen können. Dauerhafte Partnerschaften hätten keinen Wert mehr, wenn sich die Interessenlage ändere. Die Fähigkeit, schneller als andere zu reagieren, werde zum entscheidenden Faktor geopolitischen Erfolgs.
Russland sieht laut Barashin Außenpolitik als taktisches Spiel
Anhand dieser Logik wirkt Russlands Außenpolitik der vergangenen Jahre konsistent. Barbashin verweist darauf, dass der Kreml Entscheidungen situativ treffe: Unterstützung für das Assad-Regime in Syrien, taktische Nähe zu Nordkorea, vorsichtige Distanz zu eskalierenden Konflikten wie zwischen Iran und Israel.
Diese Beweglichkeit sei kein Zeichen von Beliebigkeit, sondern Bestandteil der Strategie. Politische Verpflichtungen würden nur gelten, solange sie Vorteile bringen. Sobald sich die Lage ändere, würden sie fallengelassen.
Einer der radikalsten Punkte der „Chaos-Theorie“ ist laut Barbashin die Annahme, dass Konflikte in Zukunft nicht abnehmen, sondern zunehmen werden. Krieg werde als normaler Bestandteil internationaler Politik betrachtet. In den Waldai-Texten heißt es, der kommende historische Zeitraum werde von Konflikten geprägt sein und militärische Gewalt werde zur anerkannten Methode der Interessenwahrung.

Auch in Gaza zeigte sich ein immenses Ausmaß an Leid. Bild: AP / Jehad Alshrafi
Die Autor:innen sehen militärische Macht als entscheidendes Element staatlicher Stabilität. Auch die Möglichkeit eines begrenzten Atomwaffeneinsatzes werde inzwischen offen als Option diskutiert.
Die Theorie geht auch davon aus, dass Moral und universelle Menschenrechte keine Rolle mehr spielen sollen. Ethik werde nicht länger als Kriterium politischer Entscheidungen betrachtet. Eine „richtige Seite der Geschichte“ existiere danach nicht.
Barbashin argumentiert, dass diese Denkfigur einen normativen Rahmen schafft, in dem jede Verletzung internationalen Rechts als notwendige Maßnahme dargestellt werden könne. Das umfasse sowohl die Annexion der Krim als auch die Invasion der Ukraine und die umfassende Militarisierung der russischen Gesellschaft.
Dass der geopolitische Trend durchaus in diese Richtung geht und die regelbasierte Ordnung auf der Kippe steht, beschrieb bereits der Friedens- und Konfliktforscher Thorsten Bonacker von der Uni Marburg in einem früheren Gespräch mit watson. Er sagte dazu: „Auf internationaler Ebene ist es wichtig, an der Idee einer regelbasierten Ordnung festzuhalten. Denn nur sie garantiert, dass Großmächte nicht einfach in neoimperialer Manier die Welt unter sich aufteilen.“
Strategische Herausforderung für Europa
Laut Barbashin dient die „Theorie des Chaos“ dazu, Regelbrüche zu rechtfertigen und die bestehende Weltordnung bewusst zu destabilisieren. Ziel sei es, eine neue Architektur der Sicherheit zu erzwingen, in der militärische Stärke wieder das zentrale Machtinstrument wird.
„Meduza“ schreibt, die Theorie entwickle sich parallel zur praktischen Umsetzung russischer Außenpolitik und passe sich kontinuierlich an die realen Entscheidungen des Kreml an. Für Europa bedeutet das: Wer darauf setzt, dass Russland zu früheren Vereinbarungen zurückkehrt oder durch internationale Normen begrenzt wird, riskiert entscheidende Jahre zu verlieren.