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Tausende Dokumente enthüllen schwerste Menschenrechtsverletzungen des Assad-Regimes. Die Daten, die NDR/WDR, SZ und internationale Partner ausgewertet haben, geben auch Aufschluss über das Schicksal von mehr als 1.500 Vermissten.
Von Volkmar Kabisch, Antonius Kempmann, Amir Musawy, Sebastian Pittelkow, Benedikt Strunz, Sulaiman Tadmory, NDR, und Petra Blum, WDR
Im Herbst besuchen NDR-Reporter Salah Khalifa in der syrischen Stadt Deir El Zour. Seit mehr als zwölf Jahren will Khalifa verstehen, was mit seinem Sohn Muhannad passiert ist. Ob er noch lebt, und wenn ja, wo? Der junge Mann war 2013 von syrischen Sicherheitskräften verhaftet worden. Seither hat Khalifa nichts mehr von seinem Sohn gehört.
Nun wird ein schlimmer Verdacht zur Gewissheit. Khalifas Sohn ist tot. Nach seiner Verhaftung wurde der junge Mann, der damals Jura studierte, ins berüchtigte Foltergefängnis Al-Khatib gebracht. Wenige Tage danach verstarb er. Auf seinem Totenschein, der dem Rechercheteam vorliegt, ist als Todesursache „Herzstillstand“ vermerkt.
Datensatz mit mehr als 70.000 Fotos
Der Totenschein von Muhannad ist eines von 134.000 Dokumenten eines geheimen Datensatzes aus Syrien. Die Unterlagen belegen im Detail, wie das Assad-Regime die eigene Bevölkerung massenhaft bespitzelt, entführt, gefoltert und umgebracht hat. Bei den Daten handelt es sich zum einen um mehr als 70.000 Fotos, die unter anderem die Gräuel in Assads Foltergefängnissen dokumentieren. Sie zeigen unter anderem Zehntausende Aufnahmen von toten Häftlingen.
Die Bilder wurden von der syrischen Militärpolizei aufgenommen – die meisten davon in den Jahren 2015 bis 2024. Erste Bilder datieren auf das Jahr 2012. Zum anderen stammen die Unterlagen aus mehreren syrischen Nachrichtendiensten, darunter von dem Luftwaffengeheimdienst und dem Allgemeinen Geheimdienst. Beide Dienste werden für systematische Menschenrechtsverbrechen verantwortlich gemacht und spielten eine zentrale Rolle dabei, die syrische Opposition zu unterdrücken.
Die vertraulichen Dokumente decken insgesamt einen Zeitraum von 1994 bis Dezember 2024 ab. Sie enthalten nicht nur die Namen zahlreicher Vermisster, sondern machen deutlich, welche zentrale Rolle Militärkrankenhäuser und Ärzte in Assads Tötungsmaschine spielten.
Der NDR erhielt die Unterlagen und hat sie mit dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) und mit internationalen Medienpartnern geteilt. In Deutschland waren WDR und Süddeutsche Zeitung an den Recherchen beteiligt. Alle Rechercheergebnisse werden ab sofort weltweit unter dem Titel „Damascus Dossier“ veröffentlicht.
Dienstanweisungen, Protokolle, abgehörte Telefonate
Bei den Unterlagen handelt es sich um Dienstanweisungen, Protokolle, um abgehörte Telefonate und um Einsatzpläne. Immer wieder sind die Reporterinnen und Reporter bei ihrer Arbeit aber auch auf Gefangenenlisten und auf Totenscheine verstorbener Häftlinge gestoßen.
Insgesamt konnte das Rechercheteam die Namen von mehr als 1.500 Personen aus den Dokumenten zusammentragen, die vom syrischen Sicherheitsapparat unter Assad festgenommen wurden oder in Haft verstorben sind. Der NDR hat diese Informationen inzwischen auch mit drei syrischen Nichtregierungsorganisationen und mit der UN-Organisation IIMP geteilt.
Sie unterstützen syrische Familien bei der Suche ihrer Angehörigen. Bis heute fehlt nach Angaben des Syrian Network for Human Rights SNHR von mehr als 160.000 Menschen in Syrien jede Spur. Viele Familien suchen verzweifelt nach Informationen über das Schicksal ihrer Verwandten.
Die blutige Herrschaft der Assad-Familie dauerte mehr als 50 Jahre. Während dieser Zeit wurden Hunderttausende Syrerinnen und Syrer umgebracht. Viele verstarben in den Foltergefängnissen des Regimes, andere kamen während des Bürgerkrieges um, den Baschar al-Assad gegen die eigene Bevölkerung führte.
Chemische Waffen gegen die Bevölkerung
Wiederholt setzte die Armee auch Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung ein. Die „Damascus Dossier“-Daten enthalten die Namen zahlreicher Geheimdienstmitarbeiter und Offiziere des Assad-Regimes. Unter anderem finden sich darin auch die Namen von mehr als 30 Personen, die im geheimen syrischen Chemiewaffen-Programm gearbeitet haben, darunter auch in solchen Einheiten, die an Menschenrechtsverbrechen beteiligt gewesen sein sollen.
Die Recherchen von NDR, WDR und SZ haben ergeben, dass mehrere der früher im Militärkrankenhaus Harasta beschäftigten Ärzte heute in Deutschland praktizieren. Mit einigen von ihnen konnte das Rechercheteam sprechen. Sie wiesen dabei alle Schuld von sich. Sie seien nicht an Folterhandlungen beteiligt gewesen. Die Gefangenen seien durch Sicherheitskräfte und nicht durch Ärzte misshandelt worden.
Die Fotos der Folteropfer liegen den Recherchen zufolge mittlerweile auch dem Generalbundesanwalt vor, der diese prüfen und auswerten will.
Sie sind Teil eines Struktur-Ermittlungsverfahrens zu Syrien, in dem ähnliche Bilder schon einmal eine Rolle gespielt haben. Den Recherchen zufolge führt die Bundesanwaltschaft derzeit in diesem Strukturermittlungsverfahren eine mittlere zweistellige Anzahl an einzelnen Ermittlungsverfahren und hat bereits weit über 2.000 Zeugen vernommen. Täter des Assad-Regimes können auch in Deutschland nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip strafrechtlich verfolgt werden.
Reisegenehmigungen für syrische Militärs
Die Daten geben auch Einblicke, wie befreundete Staaten das Assad-Regime über Jahrzehnte hinweg unterstützt haben. So finden sich in den Dokumenten beispielsweise Reisegenehmigungen für syrische Militärs, die an Lehrgängen im Ausland teilnehmen sollten. Dokumente aus dem Jahr 2000 zeigen, wie syrische Soldaten nach Nordkorea entsandt wurden, um dort den Bau unterirdischer Festungen zu erlernen. Vieles spricht dafür, dass die entsprechenden Kenntnisse anschließend beim Bau einer unterirdischen Atomanlage in Syrien genutzt wurden.
Die Papiere belegen weiter, dass syrische Soldaten auch nach Ausbruch des Bürgerkrieges in anderen Ländern trainiert wurden. Demnach reisten syrische Militärs 2012 und 2014 nach Russland, um an Kampffliegern ausgebildet zu werden. Und in China erfolgte demnach eine Ausbildung am militärischen Radarsystem „YLG-6M“. Die engen Verbindungen zwischen Syrien und seinen Partnern rissen dabei offenbar bis zur Flucht Assads nicht ab.
So vermerkt ein Nachrichtendienstpapier aus dem Jahr 2023, dass „unsere chinesischen Freunde“ Lehrgänge durchgeführt hätten, wie man am besten Gespräche im 4G-Netz abhört. Die „iranischen Kollegen“ hätten den syrischen Luftwaffennachrichtendienst demnach 2023 darin unterrichtet, wie man am besten Schlösser aufbricht und Schlüssel kopiert. China, Russland, Iran und Nordkorea ließen Anfragen hierzu unbeantwortet.
Aufarbeitung für Syriens Zukunft „extrem wichtig“
Das „Damascus Dossier“-Projekt helfe dabei zu verstehen, wie „die Bürokratie des Tötens unter Assad“ funktioniert habe, sagt Patrick Kroker von der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Der Jurist leitet dort die Arbeit zu Menschenrechtsverbrechen in Syrien.
„Für Syriens Zukunft ist es extrem wichtig, die Verbrechen unter Assad aufzuarbeiten“, sagt er. Die jetzige Veröffentlichung böte die Chance, das Augenmerk der internationalen Öffentlichkeit auf ein Menschheitsverbrechen zu lenken, das in seinem Ausmaß noch lange nicht verstanden ist.
Baschar al-Assad ist Anfang Dezember 2024 aus Syrien geflohen und hat mit seinem engen Führungsstab Unterschlupf in Moskau gefunden. Anfragen des Rechercheteams zu den Vorwürfen ließen sowohl die jetzige syrische Regierung als auch der ehemalige Präsident Assad unbeantwortet.
Mitarbeit: Hannah El-Hitami, Essam Yehia
„Damascus Dossier“
Grundlage der Recherchen sind Unterlagen aus den syrischen Nachrichtendiensten unter Assad und mehr als 70.000 Fotos, die unter anderem Folter und Mord in syrischen Gefängnissen dokumentieren. Die insgesamt 134.000 Dokumente decken einen Zeitraum von 1994 bis Dezember 2024 ab.
Der NDR hat die Daten mit dem ICIJ und mit internationalen Medienpartnern geteilt. An dem Projekt beteiligt sind neben NDR, WDR und SZ, Daraj Media (Libanon), ARIJ (Syrien), Le Monde (Frankreich), Washington Post (USA), Yle (Finnland), SVT (Schweden), Times of London (Großbritannien), El Pais (Spanien), CBC (Kanada).
Der NDR hat die Namen von mehr als 1.500 Personen, die vom Assad-Regime verhaftet wurden oder in Gefängnissen verstorben sind, mit folgenden Organisationen geteilt: Syrian Network for Human Rights (info@snhr.org), Syrian Center for Legal Studies and Research (info@sl-center.org), Ta´afi (ahmad.helmi@taafi-sy.org) und mit der UN-Organisation Independent Institution on Missing Persons (IIMP) (iimp-syria@un.org).