Eine Szene wie gemacht, um den immer noch ziemlich rauen Charme des Stuttgarter Ostens zu verstehen, ereignet sich an einem Donnerstagnachmittag im Spätherbst. Eine Verabredung mit den Organisatoren eines innovativen Wohn-Projekts sollte im Kulturwerk in der Ostendstraße stattfinden. Ein sanierter Gewerbebau mit Hinterhof und einem überdachten Außenbereich. Ausgerechnet an diesem Tag findet dort aber eine geschlossene Veranstaltung eines Theaters, der „Wilden Bühne“ statt.

Im Nieselregen stehen und reden? Das ist keine Alternative, doch das „Schlampazius“ um die Ecke öffnet erst in einer Stunde. Weit und breit finden sich ansonsten keine Cafés. „Wissen Sie was, gehen Sie in unseren Besprechungsraum“, sagt eine der Organisatorinnen.

Sie führt das kleine Grüppchen, das sie in ihrem Leben zuvor noch nie gesehen hat, in den dritten Stock. Ein heller Raum mit einem langen Tisch und Designerstühlen. Der Innenarchitekt, mit dem die „Wilde Bühne“ sich den Raum teilt, öffnet netterweise auch später wieder die Tür, nachdem die Gruppe für einen Fototermin noch einmal kurz draußen war.

Der Stuttgarter Osten ist sogar Romanheld

Einiges fehlt im Osten, dafür gibt es ganz schön viele spontan freundliche Leute und mehr Kreative und Engagierte (jüngst wurde das Weiterleben der Ostend-Buchhandlung gesichert) als man vermuten könnte. Die Fantastischen Vier besangen zwar mal das „Killesberg Baby“. Aber einen Literaturklassiker, den „Ostend-Roman“, wie Manfred Esser sein Buch nannte, das im „Spiegel“ rezensiert wurde und es auf die Theaterbühne geschafft hatte? Das hat der Osten exklusiv. Arbeiter, Kleinbürger, Intellektuelle, Akademiker bevölkern den Roman, Jens Krimmel und Thomas Teegen zählen zu den letzteren, wiewohl sie sich in ihrem innovativen Wohnprojekt die komplette soziale Bandbreite an Bewohnern wünschen.

Ihre Gruppe Gemeinsam27 hofft darauf, ein Haus samt Hinterhaus und bebaubarer Brache ergattern zu können, um für seine Mitglieder bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. „Wir wollen im Bestand sanieren und nachhaltig nachverdichten. Flächen in Hinterhöfen entsiegeln, positiv zu einem kühlenden Stadtklima beitragen und den Bewohnern verlässlich günstige Mieten ermöglichen“, sagt Jens Krimmel. Er selbst ist vom Heusteigviertel nach Gaisburg gezogen, jetzt würde er sich gern verkleinern, denn der Nachwuchs ist aus dem Haus, die Wohnung wird zu groß. Er würde auch in einen anderen Stadtteil ziehen, doch gern im Osten bleiben – selbst wenn der ganz schön teuer geworden ist.

Thomas Teegen (li.) und Jens Krimmel von der Genossenschaft Gemeinsam27 hoffen, im Stuttgarter Osten etwas kaufen zu können. Foto: Julian Rettig/Lichtgut

„Ich mag den Osten“, sagt Jens Krimmel. „Er gewinnt nicht überall einen Schönheitswettbewerb, aber er ist irgendwie locker. Der Osten ist nicht so durchgestylt wie der Westen. Er ist nicht so dicht bebaut und es gibt viel Grün“, sagt der Architekt. Und es leben Menschen selbstverständlich miteinander, vom Arbeitslosen bis zum Reichen von der Halbhöhe.“

Der Osten besteht nicht nur aus Berg, Gaisburg, Ostheim, sondern auch aus Frauenkopf, Gänsheide, Uhlandshöhe. Wohlhabende wohnten da nicht nur früher – Robert Bosch baute seine Villa im Neorenaissancestil dort, nahe des Wagenburggymnasiums baute der Architekt Rudolf Schweitzer die Villenkolonie am Hohengeren – sondern auch heute. Lofts über eine Million Euro werden freilich inzwischen in allen Teilen des Ostens angeboten.

Seit einigen Jahren sind Gemeinsam27 auf der Suche – und sie wissen um die heftig steigenden Immobilienpreise und wie umkämpft der Markt ist. Viele Bauträger bauen nichts Neues, sondern investieren in Bestand. Neu gebaut wird im Osten derzeit fast gar nichts. Die Preise von Eigentumswohnungen im Bestand in Stuttgart (Netto-Kaufpreise Bestand und Neubau) sind im Osten am stärksten angestiegen zwischen 2012 und 2024 – um 142,2 Prozent. Der durchschnittliche Quadratmeterpreis 2024 beträgt 4814,8 Euro, 2012 lag er noch bei 1988,2 Euro.

Die folgende Karte zeigt die Entwicklung der mittleren Kaufpreise pro Quadratmeter von gebrauchten Wohnungen im Bestand in Stuttgart in Prozent zwischen 2012 und 2024:

Anjulie Timur, Professorin für Immobilienwirtschaft an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stuttgart, sagt: „Ein solcher Effekt kann an der Nachverdichtung liegen: In Quartieren mit wenig Neubau bleibt das Angebot knapp, während die Nachfrage steigt. Das führt automatisch zu höheren Preisen.“

Also wird der Bestand umso begehrter. Das stimmt auch mit den Erfahrungen der Gruppe überein: „Unser erstes Projekt nahe dem Ostendplatz haben am Ende nicht wir bekommen, sondern, soweit wir wissen, ein Investor“, sagt Jens Krimmel. „Der Verkäufer erschien uns erst wohlgesonnen, dann ging es nicht weiter. Auf Nachfrage sagte er, es gebe einen konkurrierenden Mitbewerber. Wir haben ein Gefühl des Misstrauens erlebt“, sagt der Architekt und Mitbegründer der Gruppe.

Gemeinschaftliches Wohnen in Stuttgart

Dabei hatten sich bereits ausreichend Genossinnen und Genossen gefunden, über mehrere Monate hinweg regelmäßig getroffen, kennengelernt, das weitere Vorgehen geplant. Der Ingenieur Thomas Teegen, der sich in der Gruppe Öffentlichkeitsarbeit engagiert, wäre auch dort eingezogen. Anfang des Jahres kam das Aus. „Es war eine Riesenenttäuschung“, sagt Thomas Teegen. „Es hatten sich bereits Freundschaften gebildet, man hatte geträumt, darüber nachgedacht, wie das Leben dort werden würde. Ich habe früher schon im Osten gewohnt und habe jetzt wieder gemerkt, dass ich den Stadtteil immer noch sehr sympathisch finde.“

Aktuell wohnt er in Feuerbach, Motive für gemeinschaftliches Wohnen nennt er mehrere. „Ich wollte etwas kaufen und hatte mich schon umgeschaut, aber da ich nicht weiß, wie sich in den nächsten Jahren meine private Situation verändern könnte, zögerte ich. Ist die Wohnung klein, muss ich wieder umziehen, bleibe ich allein, verbrauche ich in einer großen Wohnung viel Wohnraum“, sagt Thomas Teegen. „Und ich fand die Idee mit der Genossenschaft sympathisch, weil viel Wert auf Ökologie und Nachhaltigkeit gelegt wird, die in Deutschland durchschnittlichen 47 Quadratmeter pro Person unterschreiten wir bewusst, wir wollen das durch gemeinschaftlich genutzte Räume kompensieren. Man weiß zudem immer, wer die Nachbarn sind, man ist nicht allein, hat aber doch Privatsphäre.“

Der Architekt Jens Krimmel fügt hinzu: „Und man könnte eventuell auch einmal eine Wohnung tauschen, falls sich die Lebensverhältnisse verändern, die Familie wächst oder schrumpft. Und wir haben Clusterwohnungen und veränderbare Wohnungen geplant, bei denen ein Zimmer mal der einen, mal der anderen Wohnung zugeschaltet werden könnte.“

Für ein Projekt in Stuttgart Ost suchen sie noch Familien

Aufgegeben haben sie nicht, aktuell stehen sie damit kurz vor ihrem ersten Projekt, wieder eines im Osten im Stöckach nahe dem Park der Villa Berg. Das Vorderhaus ist aus der Gründerzeit, es gibt ein Hinterhaus aus den 1950ern und eine Fläche, die man neu bebauen könnte. „Wir haben uns mit dem Verkäufer über den Kaufpreis geeinigt, er unterstützt unsere Ziele und räumt uns die nötige Zeit ein“, sagt Thomas Teegen.

„Voraussetzung für das Gelingen ist allerdings, dass die Stadt unsere Bauvoranfrage für den Neubau positiv entscheidet“, sagt Jens Krimmel. „Wir haben noch Platz für zwei bis drei Familien, für eine gute Altersmischung im Projekt suchen wir eher noch junge Menschen.“

Die Gruppe ist nicht auf den Osten festgelegt, hat aber eben bisher dort nur passende und bezahlbare Gebäude gefunden. Diese Erfahrung deckt sich mit dem, was die Professorin für Immobilienwirtschaft an der DHBW sagt: „In Mitte und Ost spielt vor allem die Zentralität eine Rolle. Der Osten hat in den letzten Jahren einen deutlichen Nachholeffekt erlebt – er wird zunehmend als Wohnlage wahrgenommen, die urban, aber noch etwas bezahlbarer ist. Der Osten ist eine Art ,Ausweichmarkt’ geworden – wer im Westen nichts findet, schaut zunehmend dorthin. Gleichzeitig hat sich die Aufenthaltsqualität deutlich verbessert: mehr Gastronomie, mehr Grün, eine andere städtebauliche Atmosphäre“, sagt Anjulie Timur.

Günstiges Wohnen in der Siedlung Ostheim Eduard-Pfeiffer-Platz in der Siedlung Ostheim in Stuttgart. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Stichwort Atmosphäre und Lebensqualität: Schon seit Jahren wird von der Gentrifizierung des Ostens gemunkelt. Der Architekt lächelt, er wohnt seit über zwanzig Jahren im Stuttgarter Osten. „Schon als wir nach Gaisburg gezogen sind, hat man gesagt, der Osten wird gentrifiziert. Ich merke davon wenig.“ Das liegt zum Teil an den zahlreichen Mietshäusern im „unteren“ Osten in Richtung Gaskessel, an der Talstraße, in Raitelsberg.

Und es gibt immer noch geschützten Wohnraum in einem der lauschigsten Quartiere der Stadt, das längst gentrifiziert wäre, wenn nicht ein Bankier im frühen 20. Jahrhundert eine Stiftung gegründet hätte. Die Rede ist von der „Siedlung Ostheim“. Eduard Pfeiffer ließ um 1900 nach Entwürfen des Architekten Karl Hengerer eine Siedlung für sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau mit kleinen Gründerzeitmietshäusern für die untersten Einkommensschichten errichten. Heute verfügt die Eduard Pfeiffer-Stiftung (EPS) mit seinem Bau- und Wohnungs-Verein Stuttgart (BWV) immer noch über 190 Wohnungen.

Manche Mieter haben eine Wohnung in so einer Arbeiter-Villa gekauft, manche konnten Mehrparteienhäuschen erwerben und machten aus drei kleinen Wohnungen ein Einfamilienhaus. Doch viele Menschen wohnen immer noch zu bezahlbaren Preisen in den Backsteinbauten.

Gentrifizierung im Osten?

Die Gemeinsam27-Gruppe würden an die Idee mit dem günstigen Wohnen anknüpfen: Jeder Genosse macht eine Eigenkapital-Einlage und bezahlt dann für seine Wohnung Miete. Mit geschätzt rund 15 Euro pro Quadratmeter liegt man nicht gerade im Sozialwohnungsbereich.

Trägt so eine Genossenschaft am Ende zur Gentrifizierung bei?„Nein. Wir decken mit dem Betrag lediglich die Baukosten“, erklärt Jens Krimmel. Und Thomas Teegen fügt an: „Wir haben auch vor, ein Programm für finanziell schwächere Genossinnen und Genossen aufzulegen, wir wollen divers sein, wünschen uns eine gute Durchmischung von jungen Familien bis zu Alleinstehenden und Rentnern, Besserverdienern bis zu Wohngeldempfängern.“

Ihnen allen würden sicher auch die Geschäfte gefallen, die sich rund um den Eduard-Pfeiffer-Platz angesiedelt haben und die man eigentlich eher im schon gentrifizierten Westen vermuten würde. Eine Kaffeerösterei, eine Eismanufaktur, wenige Meter weiter am Ostendplatz ein sympathischer Kiosk namens „Kiost“ und ein schickes vietnamesisches Restaurant (jüngst kam noch ein Sushi-Laden gleich um die Ecke an der Landhausstraße dazu).

Feinkost in der Haußmannstraße

Passenderweise an der Haußmannstraße, die den Osten durchschneidet von den Mietshäusern unten an der Haltestelle „Schlachthof“ nahe dem Gaskessel bis hinauf zu den Halbhöhen-Villen mit Ausblick, hat sich 2023 in einem sorgsam sanierten Laden in einem Gründerzeiteckhaus eine Käsemanufaktur mit Eventraum angesiedelt. Gleich um die Ecke gegenüber dem Jugendstil-Bau „Josefsheim“ leuchtet es hell und einladend an diesem regnerischen Donnerstagnachmittag im „Monsieur Renard“.

Eigentlich ist schon geschlossen. Alexander und Alejandro Bonilla-Cardona sind gerade dabei Gläser zu putzen, Teller zu arrangieren, denn am Abend findet eine Wein- und Käseverkostung statt, doch sie finden auch rasch Zeit für eine Kundin, die nach französischem Rohmilchkäse verlangt. „Wir wohnen selbst auch in der Haußmannstraße – im unteren Teil und fühlen uns wohl“, sagt Alejandro Bonilla-Cardona. „Das Publikum ist sehr gemischt. Wir wollen nicht, dass der Osten gentrifiziert wird.“

Noch bestimmen jene, die in den vergangenen Jahren Wohnungen für eine halbe oder eine ganze Million Euro gekauft haben, nicht das Straßenbild. Auch nicht auf der Haupteinkaufsstraße, der Ostendstraße, die sich von der Villa Berg bis zur Talstraße erstreckt.

Man sieht Leute, die an einem Kiosk die „Bild“ oder einen Underberg kaufen und jene, die im „Kiost“ nebenan das Architekturmagazin „Detail“ erstehen und auf dem hölzernen Fenstersims vor dem Lädchens sitzend, mit ihrem Coffee to go in der Hand über ihre Pläne zum Wohnungskauf oder den anstehenden Jobwechsel plaudern. Leute, wie sie auch Essers „Ostend-Roman“ bevölkern. Das Buch ist nur noch antiquarisch zu erhalten, es wird sich zeigen, ob auch sein Inhalt irgendwann nur noch historisch relevant sein wird.

Info

Daten
Die Daten wurden von der Investmentberatung Jones Lang Lasalle (JLL) zur Verfügung gestellt und bilden den jeweiligen mittleren Kaufpreis in gebrauchten Wohnungen in den Stuttgarter Stadtbezirken ab. Der Median wird weniger von niedrigen oder hohen Mieten verzerrt. Betrachtet wurde der Zeitraum von 2012 bis 2024.

Kaufpreis-Daten
Bei den Daten handelt es sich um Value Marktdaten, also Angebotspreise pro Quadratmeter, die Inserate auf gängigen Immobilienportalen umfassen und häufig als Grundlage für Marktanalysen und Bewertungen in der Immobilienbranche dienen. Auch wenn es sich um Angebotspreise handelt, gelten diese als realistisch, da Makler in der Regel zwar noch verhandlungsbereit sind, Käuferinnen und Käufer jedoch zusätzlich Kosten wie Maklerprovision, Grunderwerbsteuer oder Notargebühren tragen müssen, die den tatsächlichen Kaufpreis insgesamt wieder an das Angebotsniveau heranführen.

Stuttgart-Ost
Die Landeshauptstadt Stuttgart hat 23 Stadtbezirke. Stuttgart-Ost besteht aus den älteren Stadtgebieten Berg, Gablenberg, Gaisburg und Ostheim sowie den neueren Stadtteilen Frauenkopf, Stöckach, Uhlandshöhe und Gänsheide. In dem Bezirk wohnen rund 48100 Einwohnerinnen und Einwohner.