05. Dezember 2025

Matthias Lindner

Bauboom in der Westukraine. Ein Baukran silhouettierte gegen den warmen Schein eines frühen Morgenhimmels.

(Bild: Drop of Light / Shutterstock.com)

4,5 Millionen Arbeitskräfte fehlen bis 2040. Millionen sind geflohen, die Geburtenrate kollabiert. Wie soll der Wiederaufbau gelingen?

In der westukrainischen Kleinstadt Hoshcha steht eine Entbindungsstation leer. Nur 139 Babys kamen hier im laufenden Jahr zur Welt, vor gut einem Jahrzehnt waren es über 400. „Viele junge Männer sind gestorben“, sagt der Gynäkologe Yevhen Hekkel gegenüber Reuters. Männer, die eigentlich „den Genpool der Ukraine auffüllen sollten.“

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Was in Hoshcha sichtbar wird, ist Teil einer demografischen Katastrophe, die das ganze Land erfasst hat. Telepolis hatte schon mehrfach über die düsteren Prognosen berichtet, die jetzt durch den Reuters-Bericht bestätigt werden: Die Ukraine blutet aus – demografisch, wirtschaftlich, sozial.

Während also an der Front gekämpft wird, stellt sich eine Frage immer dringender: Wer ist nach Kriegsende noch übrig, um die Ukraine wieder aufzubauen?

Ein Land verliert seine Zukunft

Die Zahlen bestätigen die Prognosen der letzten Jahre. Lebten vor dem russischen Einmarsch noch etwa 42 Millionen Menschen in der Ukraine, sind es heute weniger als 36 Millionen. Das Demografie-Institut der Nationalen Akademie der Wissenschaften rechnet laut Bericht damit, dass bis 2051 nur noch 25 Millionen übrig bleiben werden.

Der Grund: Auf jede Geburt kommen mittlerweile drei Todesfälle – der schlechteste Wert weltweit laut CIA World Factbook. Die Geburtenrate liegt bei etwa einem Kind pro Frau, die niedrigste in ganz Europa.

Besonders dramatisch: Die Lebenserwartung ist eingebrochen. Männer sterben im Schnitt mit 57,3 Jahren – acht Jahre früher als vor dem Krieg. Bei Frauen sank sie von 74,4 auf 70,9 Jahre.

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Die Vereinten Nationen gehen in ihren Langfristprognosen davon aus, dass im Jahr 2100 nur noch zwischen neun und 23 Millionen Menschen in der Ukraine leben werden.

4,5 Millionen Arbeitskräfte werden fehlen

Die Regierung in Kiew hat das Problem erkannt und eine demografische Strategie bis 2040 vorgelegt. Ihre zentrale Warnung: In den kommenden zehn Jahren werden 4,5 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Besonders kritisch wird es im Bauwesen, in der Technologiebranche und bei Verwaltungsdienstleistungen – ausgerechnet jenen Sektoren, die für den Wiederaufbau zentral sind.

Der Plan, mit dem die Situation wieder gedreht werden soll, setzt auf drei Hebel:

  • Abwanderung stoppen: Verbesserung von Wohnverhältnissen, Infrastruktur und Bildung soll Menschen im Land halten.
  • Rückkehr fördern: Ukrainer im Ausland sollen durch bessere Perspektiven zur Rückkehr bewegt werden.
  • Einwanderung: Wenn Stellen unbesetzt bleiben, sollen gezielt Arbeitskräfte aus anderen Ländern angeworben werden.

Im besten Fall, so die Hoffnung, könnte die Bevölkerung bis 2040 wieder auf 34 Millionen wachsen. Ohne Gegensteuern droht ein Absturz auf 29 Millionen.

Doch Experten zeigten sich bereits in den vergangenen Jahren skeptisch. So warnte etwa eine im Jahr 2022 veröffentlichte Bevölkerungsstudie, dass die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis 2040 um ein Drittel schrumpfen könnte. Die Zahl der Kinder würde sich halbieren.

Die meisten Geflüchteten kommen nicht zurück

Etwa 5,2 Millionen Ukrainer leben derzeit im Ausland. Das ukrainische Centre for Economic Strategy schätzt laut Reuters, dass zwischen 1,7 und 2,7 Millionen dauerhaft wegbleiben werden. Nach Kriegsende könnten weitere Hunderttausende Männer folgen, denen bislang die Ausreise verboten ist.

Besonders problematisch: Unter den Geflüchteten sind überproportional viele junge Frauen. Das verschärft die Geburtenkrise zusätzlich.

In Deutschland zeigt sich das Dilemma deutlich. Laut einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) planen zwischen 59 und 69 Prozent der ukrainischen Geflüchteten, langfristig in der Bundesrepublik zu bleiben. Viele haben Jobs gefunden, machen Ausbildungen, ihre Kinder gehen hier zur Schule.

Seit 2014 hat die Ukraine insgesamt rund zehn Millionen Menschen verloren – ein Viertel ihrer Bevölkerung.

Wenn die Infrastruktur zusammenbricht

Im Dorf Sadove, keine zehn Kilometer von Hoshcha entfernt, wurde, so berichtet Reuters, kürzlich die Schule geschlossen. Nur noch neun Kinder waren übrig. Die Entbindungsstation in Hoshcha verlor bereits 2023 ihre staatliche Förderung, weil sie das Mindestziel von 170 Geburten pro Jahr verfehlte – um ein einziges Baby.

Die Dörfer leeren sich. Wer kann, zieht in die Kleinstädte, weil auf dem Land Kliniken, Schulen und Läden schließen. Aber auch das ist keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung des Problems.

Warum junge Menschen zögern

Viele junge Leute in der Ukraine zögern laut Bericht, eine Familie zu gründen, obwohl sie es durchaus gern wollen. Aber nicht jetzt. Nicht unter diesen Bedingungen. „Es gibt keine Stabilität, nichts, worauf man aufbauen kann“, wird eine 21-jährige Ukrainerin zitiert.

Die Gründe liegen auf der Hand:

  • Fehlende Perspektive: Der Krieg macht jede Planung unmöglich – niemand weiß, wie lange er dauert
  • Ökonomischer Druck: Mieten und Lebenshaltungskosten steigen rasant
  • Unsicherheit: Viele Partner sind an der Front, vermisst oder tot

Die Leiterin der Entbindungsstation von Hoshcha berichtet gegenüber Reuters, dass ein Drittel der werdenden Mütter Ehemänner beim Militär hat. Manche werden nie zurückkehren.