Seit knapp vier Jahrzehnten verfasst die amerikanische Regierung alle paar Jahre ein Dokument mit dem Titel „National Security Strategy“, kurz: NSS. Außer bei einigen Menschen, die professionell mit Außen- und Sicherheitspolitik zu tun haben, lösen diese Schriftstücke in der Regel keine größere Aufregung aus. Bei der neuen Sicherheitsstrategie, die das Weiße Haus in der Nacht zu Freitag veröffentlicht hat, dürfte das anders sein.

Das hat zum einen damit zu tun, dass es die erste NSS ist, die Donald Trump in seiner zweiten Amtszeit als amerikanischer Präsident vorgelegt hat. Eine zusammenhängende Darstellung der Ideen und Ziele, die hinter seiner zuweilen doch eher sprunghaften und disruptiven Politik stehen, ist daher per se von Interesse.

Die US-Regierung sieht Russland offensichtlich nicht als Bedrohung

Es hat zum anderen aber damit zu tun, dass in dem Dokument Dinge stehen, die viele Regierungen, die die USA immer noch als ihre Verbündeten sehen und brauchen, vielleicht zwar ahnen – aber lieber nicht schwarz auf weiß lesen würden. Und für kaum eine Weltregion gilt das so wie für Europa.

Die – aus europäischer Sicht – Liste der Mängel beginnt damit, dass die derzeitige US-Regierung offenbar nicht bereit ist, Russland als Bedrohung zu definieren. Stattdessen ist in dem entsprechenden Kapitel von den Beziehungen zwischen Europa und Russland die Rede, die wegen des Kriegs in der Ukraine schlecht seien. Viele europäische Staaten sähen Russland als „existenzielle Bedrohung“, referiert das Dokument in neutralem Ton – gerade so, als seien die Vereinigten Staaten angesichts ihrer Stellung als politische und militärische Führungsmacht der Nato davon nicht selbst betroffen.

Und offenbar ist genau das die herrschende Meinung in der US-Regierung. Amerikas Rolle in Europa wird in dem Dokument nicht als die einer Schutzmacht oder eines Verbündeten beschrieben, sondern als die eines Vermittlers, der unter „enormem diplomatischem Aufwand“ die Beziehungen zwischen Russland und den Europäern verwalten müsse. Ziel sei dabei, „strategische Stabilität“ zu erreichen und das Risiko eines Kriegs zwischen den Europäern und Russland zu mindern.

Die USA behaupten, die europäischen Regierungen wollten den Krieg in der Ukraine weiterführen

Das klingt nicht unbedingt nach einem Bekenntnis zur transatlantischen Werte- und Interessengemeinschaft, zu deren Verteidigung die USA sich einst in Artikel 5 des Nato-Vertrags verpflichtet haben. Es weckt auch Zweifel am Wert der Abschlusserklärung des Nato-Gipfeltreffens in Den Haag im Sommer, bei dem sich Trump zur Erleichterung der Europäer zur Allianz und zu Artikel 5 bekannt hatte. Dieser Artikel besagt, dass ein Angriff auf ein Nato-Mitglied als Angriff auf alle Nato-Staaten angesehen wird.

Zudem wird den europäischen Regierungen in dem Dokument mehr oder weniger offen vorgeworfen, den Krieg in der Ukraine weiterführen zu wollen, um „unrealistische“ Ergebnisse zu erreichen. Sie stünden damit in Widerspruch zur US-Regierung, die Frieden wolle, ebenso zur Mehrheit ihrer eigenen Bevölkerungen. Diese könnten nur durch das „Untergraben demokratischer Prozesse“ auf Linie gehalten werden könnten.

Noch unangenehmer ist für die Europäer der starke kulturkämpferische Ton, der das Kapitel zu ihrem Kontinent prägt. Wer die harsche Rede von J. D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, in der der US-Vizepräsident die angebliche Unterdrückung politisch unliebsamer Parteien und Meinungen in Europa angeprangert hatte, für einen Ausrutscher gehalten hat, merkt bei der Lektüre der NSS: Das Gegenteil ist der Fall. Die Trump-Regierung sieht es offenbar als ihre Aufgabe an, ein Europa zu propagieren, das dem Trump-Amerika ähnlich ist.

„Wir können es uns nicht leisten, Europa abzuschreiben“, heißt es in der Strategie

Das Bild, das das Dokument von Europa zeichnet, ist jedenfalls kaum mehr als jenes Zerrbild, das rechtspopulistische, EU-feindliche und xenophobische Parteien diesseits des Atlantiks – die politischen Partner der Trump-Bewegung – ebenfalls zeichnen. Der ungarische Regierungschef und Trump-Freund Viktor Orbán zum Beispiel äußert sich oft wortgleich. Dem Kontinent, so heißt es in der NSS, drohe die „zivilisatorische Auslöschung“. Die EU zerstöre mit ihrem Regulierungswahn die politische Freiheit und Souveränität der europäischen Länder, Migration verändere den Kontinent und löse innere Unruhen aus, oppositionelle Parteien und Ansichten würden zensiert und unterdrückt, demokratische Prinzipien „zertrampelt“. Die Europäer, so das Fazit, verlören ihre nationalen Identitäten und ihr Selbstbewusstsein.

Allerdings, so räumt das Dokument ein, sei Europa für die USA aus wirtschaftlichen und historischen Gründen strategisch und kulturell wichtig. „Wir können es uns nicht leisten, Europa abzuschreiben“, heißt es. Für Amerika sieht die NSS daher die Aufgabe, „den Widerstand in den europäischen Ländern gegen den derzeitigen Kurs Europas zu befördern“. Dazu, wie das geschehen soll, findet sich ebenfalls ein Hinweis: „Amerika ermutigt seine politischen Verbündeten in Europa, eine geistige Erneuerung voranzutreiben, und der wachsende Einfluss patriotischer europäischer Parteien ist ein Grund für großen Optimismus.“

Für die Anführer rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen in der EU klingt die NSS daher wie ein Hilfsversprechen aus Washington. Für die meisten europäischen Regierungen hingegen klingt es eher wie eine massive Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten souveräner Partnerländer. Oder wie eine Kampfansage.